Stadt der Finsternis - Andrews, I: Stadt der Finsternis
sagte er.
»Setz ihn auf die Warteliste«, murmelte ich. Jetzt meinte ich in dem Gekritzel etwas zu erkennen.
»Ich scherze nicht.«
»Du scherzt nie. Dafür bist du viel zu sehr damit beschäftigt, jedermann zu beweisen, was für ein knallharter Typ du bist. Also bitte, ein schwarzer Ledermantel? Mitten im Frühling in Atlanta? Außerdem habe ich keine Zeit, mich mit jemandem zu treffen.«
Jims Stimme klang nun noch tiefer, und er sprach jedes einzelne Wort sehr sorgfältig aus. »Denk mal genau nach. Willst du wirklich, dass ich zu dem Mann nein sage?«
Etwas an der Art, wie er »dem Mann« sagte, ließ mich innehalten. Ich saß reglos da und überlegte krampfhaft, welcher »Mann« Jim dazu bringen würde, mit so tiefer Stimme zu sprechen.
»Womit habe ich es denn verdient, dass der Herr der Bestien auf mich aufmerksam geworden ist?«, fragte ich mit trockener Kehle.
»Du sitzt im Büro des Wahrsagers, oder etwa nicht?«
Eins zu null für ihn.
Der Herr der Bestien war der König des Rudels, der Herr und Gebieter der Gestaltwandler, und er herrschte über seinesgleichen mit eiserner Faust. Nur wenige hatten ihn je gesehen, und die Erwähnung seines Titels genügte, damit auch der großmäuligste Gestaltwandler die Klappe hielt. Mit anderen Worten, er war genau der Typ, vor dem mein Vater und Greg mich immer gewarnt hatten. Ihm sollte ich auf jeden Fall aus dem Weg gehen. Ich knirschte mit den Zähnen, überlegte, wie ich mich aus dieser Geschichte herauslavieren konnte. Das Volk musste ich früher oder später ohnehin aufsuchen, um etwas über den Vampir zu erfahren. Doch bisher hatte nichts die Notwendigkeit aufgeworfen, dass ich mich auch ins Lager des Rudels wagte.
»Deine persönliche Sicherheit wird garantiert«, sagte Jim. »Ich werde ebenfalls dort sein.«
»Das ist es gar nicht«, murmelte ich. Es musste doch eine Möglichkeit geben, sich vor diesem Besuch zu drücken. Ich starrte die Kritzelei a n …
»Schau mal«, sagte Jim und gab sich offenkundig große Mühe, vernünftig zu klingen. »Überleg doch ma l … «
»Sag ihm, dass ich mich heute Abend mit ihm treffen werde, an einem neutralen Ort«, sagte ich. »Und dann werde ich seine Fragen beantworten – wenn er meine beantwortet.«
»Abgemacht. Heute Abend um elf an der Unicorn, Ecke Thirteenth Street.«
Er legte auf. Ich pochte mit den Fingern auf den Tisch. Endlich wurde ich aus dem Gekritzel schlau. Es sollte den Kopf eines heulenden Wolfs darstellen, vor einem Halbmond. Das Zeichen des Rudels. Corwin gehörte dem Rudel an.
Es gab noch eine Kleinigkeit mit Maxine zu klären. Ich konzentrierte mich und flüsterte so leise, dass ich mich selbst nicht hören konnte. Wahre Kommunikatoren vermochten sich so zu konzentrieren, dass sie ihre Gedanken übertragen konnten, ohne sie überhaupt zu artikulieren, ich aber musste immer noch wie eine Idiotin die Lippen bewegen.
»Maxine?«
»Ja?«, antwortete Maxines Stimme in meinem Kopf.
»Hat sonst noch jemand für mich angerufen?«
»Nein.«
»Vielen Dank.«
»Nichts zu danken.«
Ich legte die Akte zurück und verließ das Büro. Maxine war eine Telepathin. Eine sehr fähige. Von nun an wurde in diesem Büro nicht mehr groß nachgedacht.
Ich eilte die Treppe hinab und aus dem Gebäude. Die Vorstellung, dass jemand in meinen Kopf eindrang, empfand ich als sehr gewöhnungsbedürftig.
Ich ging zurück in Gregs Wohnung. Ich setzte mich auf den Boden, lehnte mich mit dem Rücken an die Tür und atmete tief durch. Mein ganzes Leben lang hatte man mir eingebläut, den Mächtigen aus dem Weg zu gehen. Lenke keine Aufmerksamkeit auf dich. Spiel dich nicht auf. Bewahre dein Blut, denn es würde dich verraten. Wenn du blutest, wisch es auf und verbrenne den Lappen. Verbrenne die Verbände. Falls es jemandem gelingen sollte, sich etwas von deinem Blut zu verschaffen, so töte ihn und vernichte die Blutprobe. Erst war es noch eine Frage des Überlebens. Später wurde es eine Frage der Vergeltung.
Sich mit dem Herrn der Bestien zu treffen bedeutete, dass ich mich Hals über Kopf in die übernatürliche Politik von Atlanta stürzte. Er war dort eines der hohen Tiere. Ich konnte mich auch entscheiden, mich nicht mit dem Herrn der Bestien zu treffen. Dazu musste ich weiter nichts tun, als diese ganze Sache auf sich beruhen zu lassen. Es war ganz einfach. Doch da tauchte vor meinen Augen eine Vision auf, in der ich mich über einen menschlichen Leichnam beugte und mir Fleischfetzen in den Mund
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