Stadt der Finsternis - Andrews, I: Stadt der Finsternis
vorsichtig.«
Ich schüttelte den Kopf. Da war er endlich, mein Märchenprinz. Nur schade, dass er ein Werwolf war.
»Glaubst du, das Volk könnte irgendetwas versuchen?«
»Nicht das Volk.« Ich verlangsamte meine Schritte. »Das Rudel und das Volk haben fast gleich große Verluste erlitten, und die Morde haben sich genau auf der Grenze zwischen den beiden zugetragen. Diese Abfolge von Tötungen erscheint mir sehr sorgfältig ausgeführt.«
»Steckt Nataraja dahinter?«
»Es steckt jemand dahinter, der von einem Krieg zwischen Rudel und Volk profitieren würde.«
»Wie Nataraja?«
»Würdest du Nataraja mal in Ruhe lassen?« Ich sah ihn mit gerunzelter Stirn an. »Nate ist vor allem Geschäftsmann. Ja, er würde das Rudel gern schwächen. Und aus einem offenen Konflikt würde das Volk vielleicht sogar als Sieger hervorgehen, doch sie wären anschließend so geschwächt, dass das Bäuerchen eines Babys sie umwerfen könnte. Dieser Krieg würde sich für das Volk gegenwärtig einfach nicht rechnen, deshalb wurden wir ins Casino eingeladen. Und trotz der Show, die sie abziehen, macht sich das Volk Sorgen. Ihnen sind nicht nur sechs Vampire abhanden gekommen, die sehr kostspielig zu ersetzen sind, sondern sie spüren auch eine grundlegendere Bedrohung. Was meinst du wohl, weshalb Ghastek uns nach Hause geleiten soll?«
»Was für eine Bedrohung?« Derek zuckte die Achseln.
Ich hatte ganz vergessen, was für ein schönes Gefühl es war, über eine Theorie zu diskutieren. »Hast du mal von der Redewendung gehört ›den Gilbert machen‹? Weißt du, woher die kommt?«
»Nein.«
»Vor ungefähr neun Jahren hat ein einzelgängerischer Herr der Toten versucht, die Macht über das Volk an sich zu reißen. Er wollte Nataraja mit einem Sexsklaven-Ring aufs Kreuz legen. Was eine schöne Ironie ist, denn ich bezweifle, dass diese Schlange jemals selbst Sex hatte, geschweige denn, dass sie welchen vermittelt hat. Jedenfalls, Gilbert nahm an, dem Volk wäre die ganze Sache furchtbar peinlich, wenn Nataraja festgenommen würde, und er könnte da einfach reinmarschieren und den Laden übernehmen. Er hatte Macht im Übermaß und hätte die Sache auch fast tatsächlich durchgezogen.«
»Und du glaubst, der ist wieder zurück?«
»Nein, Gilbert ist tot. Nataraja hat ihn umgebracht und sein Herz verbrennen lassen. Die Asche trägt er immer noch in einem kleinen Beutel an einer Halskette mit sich herum. Aber das hier erinnert schon stark an die Sache mit Gilbert. Der Plan hat eine gewisse Brillanz: Man hetzt das Rudel und das Volk aufeinander, und wenn die Schlacht ausgefochten ist, kommt man und entreißt dem geschwächten oder gar sterbenden Nate die Kontrolle.«
»Ich wäre für ›sterbend‹«, versetzte Derek.
»Erstens haben wir Mitglieder des Rudels, die von Tieren mit nekromantischer Färbung in Stücke gerissen wurden, wahrscheinlich Tiere, die das Fleisch von Untoten gefressen hatten. Zweitens haben wir Vampire, die gekillt werden, und zwar von jemandem, der sich bestens in Vampir-Anatomie auskennt. Und drittens: Nate hat Angst. Schau dir diesen Aufwand an. Er hat die Patrouillen verdoppelt. Siehst du, dem Volk geht die Macht über alles. Sie ermutigen nicht geradeheraus zu gewaltsamen Umstürzen, aber wenn der Sieger Roland seine Huldigung darbringt und dabei die richtigen Worte wählt, wird er wahrscheinlich damit durchkommen. Ich glaube, wir haben es hier mit einem einzelgängerischen Herrn der Toten zu tun.« So musste es sein. Es passte alles zusammen.
»Wer ist Roland?«, fragte Derek und riss mich damit aus meinen Gedanken.
»Roland? Das ist der legendäre Führer des Volkes. Angeblich lebt er, seit die Magie die Welt das letzte Mal verlassen hat, was vor ungefähr viertausend Jahren geschah. Er soll eine unglaubliche Macht haben, beinahe gottgleich. Manche sagen, er sei Merlin, andere sagen, er sei Gilgamesch. Er verfolgt bestimmte Ziele und nutzt das Volk dazu, sie zu erreichen, auch wenn die meisten von ihnen ihn noch nie gesehen haben. Es gibt keinen Beweis für seine Existenz, und Laien wie du und ich sollen eigentlich gar nichts von ihm wissen.«
»Aber es gibt ihn?«
»Oh ja, es gibt ihn durchaus.«
»Und woher weißt du das alles?«
»Es gehört zu meinem Job, so was zu wissen.« Und glaub mir, Wunderknabe: Ich weiß viel zu viel. Ich weiß alles über seine Angewohnheiten. Ich weiß, welches Essen er mag, mit was für Frauen er am liebsten sein Lager teilt, welche Bücher er am liebsten
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