Stadt der Finsternis - Andrews, I: Stadt der Finsternis
noch mieser.
Ich lag im Bett, starrte an die Zimmerdecke und überlegte, Crest anzurufen und die ganze Sache abzublasen. Das wäre das Vernünftigste gewesen. Doch leider war es mit der Fähigkeit, vernünftig zu sein, bei mir nicht sehr weit her. Nicht zu dieser Verabredung zu gehen hätte bedeutet, dass ich es aufgegeben hätte, ohne es überhaupt versucht zu haben.
Ich schlurfte ins Bad und wusch mir das Gesicht mit kaltem Wasser. Doch das half auch nicht.
Ich hatte nur ein Kleid, das ich im Fernando’s tragen konnte, denn es war das einzige Abendkleid, das ich besaß, und das einzige Kleid von mir, das in Gregs Gästekleiderschrank hing. Ich hatte es bei einem festlichen Empfang getragen, zu dem er mich im vergangenen November mitgeschleppt hatte, und dort hatte ich zwei Stunden lang Leuten gelauscht, die sich eindeutig gerne reden hörten.
Ich nahm das Kleid aus dem Schrank und legte es aufs Bett, ging dann in die Küche und goss mir ein Glas Wasser ein. Ich hatte viel Blut verloren. Ich trank das Glas aus, schenkte mir nach und ging zurück ins Schlafzimmer. Das Kleid lag auf der Bettdecke, in die letzten Strahlen der untergehenden Sonne getaucht. Es war ganz schlicht geschnitten, hatte aber eine ungewöhnliche Farbe, ein namenloser Farbton irgendwo zwischen Pfirsich, Khaki und Messing. Anna hatte es für mich ausgesucht. Ich erinnerte mich daran, wie sie die Kleider durchgegangen war, die an Drahtbügeln hingen, mit forscher Geste eins nach dem anderen beiseiteschob, während eine unmöglich magere Verkäuferin verzweifelt zusah. »Du brauchst nichts, was dich schlanker erscheinen lässt«, hatte Anna erklärt, »und auch keine Polster. Was du brauchst, ist etwas, das dich weicher erscheinen lässt, und das ist schon ein wenig schwieriger, mit dem richtigen Kleid aber durchaus machbar. Zu unserem Glück hat dein Teint die richtige Farbe für dieses Kleid. Du wirst darin etwas dunkler erscheinen, was an sich ja nicht schlecht ist.«
Ich sah das Kleid an und erinnerte mich an das beunruhigende Gefühl, als ich mich, nachdem ich es angezogen hatte, selbst nicht mehr erkannt hatte. Ich war wohlproportioniert und schlank, aber nicht schmal. Und wenn ich meinen Arm anspannte, sah man die Muskeln. Ganz egal, wie sehr ich abzunehmen oder dünner zu werden versuchte, es gelang mir doch nur, mir noch mehr Muskelmasse zuzulegen, daher hatte ich es bereits mit vierzehn Jahren aufgegeben, dem gertenschlanken Schönheitsideal entsprechen zu wollen. Überleben war wichtiger als Mode. Klar wog ich keine fünfzig Kilo, aber meine Wespentaille war ausgesprochen biegsam, und ich konnte einem Mann mit einem einzigen Tritt das Genick brechen.
Dieses Kleid kaschierte meine Muskeln, brachte das Auge dazu, weiches Fleisch dort zu sehen, wo gar keins war. Das Dumme war bloß, dass ich mir nicht sicher war, ob ich es heute für Crest anziehen wollte.
Ich strich mit den Fingern über das weiche Gewebe und wünschte mir, Anna würde anrufen.
Das Telefon klingelte.
Ich nahm ab. Annas Stimme sagte: »Hallo!«
»Wie machst du das?«
»Was? Dich anrufen, wenn du mit mir reden willst?« Sie klang belustigt.
»Ja.«
»Die meisten Hellseher sind auch Empathen, Kate. Die Empathie für einen bestimmten Menschen dient uns bei dem, was wir tun, als Brücke. Ich kenne dich nun schon sehr lange – ich kann mich sogar noch erinnern, wie du Laufen gelernt hast –, und ich habe zu dir eine permanente Verbindung aufgebaut. Das ist so, als wäre man auf einen bestimmten Radiosender eingestellt, der allerdings die meiste Zeit nicht auf Sendung ist.«
Ich trank einen Schluck Wasser. Mir war klar, dass sie nicht auf ihre Vision zu sprechen kommen würde, wenn ich sie nicht darauf ansprach, und mir war nicht danach, sie darauf anzusprechen.
»Wie laufen die Ermittlungen?«
»Ich habe Gregs Mörder gefunden.«
»Aha. Und was hast du mit ihm gemacht?«
»Es war eine Sie. Ich habe ihr den Bauch aufgeschlitzt und dann ihr Herz zerquetscht.«
»Reizend. Und was hat sie dir getan?«
»Ich werde eine Narbe am Oberschenkel zurückbehalten, und mein Bauch tut mir immer noch weh. Aber wenigstens hatte ich diesmal einen professionellen Sanitäter.«
Anna seufzte. »Ich nehme mal an, das ist kein allzu schlimmes Ergebnis für einen deiner Ausflüge. Bist du zufrieden?«
Ich öffnete den Mund, um mit Ja zu antworten, und hielt dann inne. Mit einem Mal war mir die Ursache meiner Beklemmung klar.
»Kate?«
»Nein, ich bin nicht zufrieden.« Ich
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