Stadt der Finsternis - Andrews, I: Stadt der Finsternis
den Mund und schloss ihn dann wieder. Ich hatte weiter nichts getan als dazustehen und zu lächeln. Wie ein braves Kind oder ein wohlerzogener Hund. Hatte er erwartet, dass ich ihr ans Bein pinkele?
Eine Glocke erklang, bat im Saal um Ruhe. Schweigen senkte sich hernieder, und dann öffnete sich langsam der Samtvorhang, und auf der Bühne stand eine kleine Frau. Sie hatte dunkle Haut und war sehr kräftig. Ihr rabenschwarzes Haar türmte sich in einer kunstvoll verschlungenen Frisur auf ihrem Kopf. Eine lange, silberfarbene Robe ergoss sich in Falten von ihren Schultern und leuchtete, als bestünde das Gewebe aus sonnendurchflutetem Wasser.
Aivisha schaute mit ihren dunklen, unergründlichen Augen ins Publikum und trat einen kleinen Schritt vor, die silbernen Kaskaden ringsum regten sich, dann begann sie zu singen.
Ihre Stimme war unglaublich. Absolut verblüffend in ihrer Klarheit und Schönheit, erhob sie sich, gewann an Kraft, und dann strömte eine Macht durch sie hindurch und durchdrang den ganzen Konzertsaal und das erstaunte Publikum. Ich dachte nicht mehr an Crest, an Olathe, an meine Arbeit und lauschte nur noch, verloren in den Harmonien dieser bezaubernden Stimme.
Aivisha hob die Hände. Dünne Eissplitter wuchsen aus ihren Fingern hervor und wanden und drehten sich im Einklang mit ihrem Gesang. Wie eine komplizierte kristallene Spitze streckte sich das Eis über die Bühne, stieg an den Seitenkulissen hinauf und bildete dort Bündel feinster Federn. Es schmiegte sich um die Falten von Aivishas Gewand wie ein Schoßtier, und ich konnte nicht mehr erkennen, wo der silberne Stoff endete und die kristalline Reinheit des Eises begann.
Aivisha sang und sang, und das Eis tanzte für sie, gehorchte ihr aufs Wort. Sie hatte uns vollkommen in ihrer Gewalt, wie hypnotisiert hielten wir den Atem an, bis sich ihre Stimme zu einem überwältigenden Crescendo emporschwang. Ein blauer Blitz stieß aus ihr heraus, ließ das Eis mit einem Schlag zerschmelzen. Die kristalline Spitze zerbarst, löste sich in Luft auf. Der Vorhang fiel, verbarg Aivisha vor dem Publikum. Einen Moment lang saßen wir baff da. Dann erschütterte Applaus den ganzen Saal.
Crest drückte mir die Hand, und ich drückte zurück.
Eine Dreiviertelstunde später bogen wir auf den Parkplatz vor dem Haus, in dem ich wohnte.
»Darf ich dich noch zur Tür begleiten?«, fragte Crest.
»Heute nicht«, murmelte ich. »Es tut mir leid. Ich wäre einfach keine gute Gesellschaft.«
»Sicher?«, fragte Crest, und seinem Blick war anzusehen, dass er sich schon keine Hoffnungen mehr machte. Es tat mir leid, aber ich konnte einfach nicht. Irgendetwas sagte mir, dass ich diese Sache an diesem Punkt beenden sollte.
»Ja«, sagte ich. »Danke für das Essen und den schönen Abend.«
»Ich hatte gehofft, der Abend würde nicht so schnell enden«, erwiderte er.
Ich berührte mit den Fingerspitzen seine Hand. »Es tut mir leid. Vielleicht ein andermal.«
»Nun denn«, sagte er. »Morgen ist auch noch ein Tag.«
Ich öffnete die Tür und stieg aus. Er wartete noch einen Moment lang und brauste dann davon. Zu spät wurde mir klar, dass er einen Gutenachtkuss erwartet hatte.
Meine Hüfte hatte mir schon den ganzen Abend wehgetan, und als ich nun über den Parkplatz ging, war der Schmerz kaum noch zu ertragen. Ich zog mir die Schuhe aus und ging barfuß, mit den Highheels in der Hand, zur Haustür.
Da blieb mein Fuß an einer Bodendelle hängen. Ich rutschte aus und wäre beinahe auf den Allerwertesten geplumpst. Schmerzen fuhren mir durchs Bein. Ich beugte mich vor, wartete, dass es vorüberging, und fluchte währenddessen leise vor mich hin.
»Wie wär’s?«, flüsterte eine Stimme hinter meinem Ohr. »Soll ich dich wieder mal tragen?«
Ich wirbelte herum und verpasste demjenigen, der das sagte, einen Aufwärtshaken in den Bauch. Meine Faust prallte an einer Muskelwand ab.
»Guter Schlag«, sagte Curran. »Für einen Menschen.«
Ja, ja. Ich hab genau gehört, wie du ausgeatmet hast, als ich dich getroffen habe. Du hast es gespürt . »Was willst du?«
»Wo ist denn deine gut aussehende Abendbegleitung abgeblieben?«
»Und deine?«
Ich ging weiter. Die einzige Möglichkeit, ihn loszuwerden, war, die Treppe hinaufzugehen und ihm das Wehr vor der Nase zuzuknallen.
»Sie ist daheim«, erwiderte er. »Und wartet auf mich.«
»Dann tu mir den Gefallen und geh zu ihr.«
Ich war bei der Eingangstreppe angelangt und setzte mich hin. Mein Bein brauchte eine
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