Stadt der Lügen
wurde aber ganz ähnlich geführt. Jeder kannte jeden, und ein Fremder fand nur her, wenn ein Eingeweihter ihn einführte, so wie ich an diesem Abend Christopher mitbrachte.
Ich stieß die alte rote Tür auf und sagte ihm, er solle auf die Stufe achten, denn die einzige Beleuchtung war das Licht aus dem Hauptraum, dessen warmer Schein um die Ecke drang. Es war ziemlich spät. Wir hatten schon seit mindestens drei Stunden miteinander gezecht, und daher wunderte ich mich nicht, als er stolperte und hinfiel, ich aber viel zu langsam reagierte, um ihn aufzufangen. Ich entschuldigte mich und half ihm wieder auf die Beine. Er klopfte sich den Staub ab und erklärte, er habe sich nicht wehgetan. Danach ließ ich ihn vorgehen; teilweise, weil ich aufpassen wollte, falls er noch einmal hinfallen sollte, aber auch, weil ich gespannt auf seinen Gesichtsausdruck war, wenn er alles sah. Ich hatte ihm nur vage angedeutet, was ihn erwartete.
Er war beeindruckt. Ich merkte es daran, wie er immer wieder stehen blieb, sich ungläubig umschaute und solche Dinge sagte wie »Wow!« oder »Wahnsinn!« Er war Engländer. Ein netter Junge. Na ja, er war bestimmt Mitte bis Ende zwanzig, aber wenn man so alt geworden ist wie ich, darf man so jemanden mit Fug und Recht als »Jungen« bezeichnen.
Ich nahm seinen Arm und führte ihn zu einem Platz, von dem aus man einen guten Überblick hatte. Ein paar Stammgäste waren schon da, aber so richtig losgehen würde es erst später. Christopher glitt hinter den Tisch auf das glänzende rote Ledersofa. Er saß da, bewegte den Kopf hin und her wie die Marionette eines Bauchredners, und auf seinem Gesicht lag sogar das gleiche doofe Grinsen.
»Es ist völlig unglaublich«, sagte er. »Du hast mir ja schon angekündigt, dass ich so etwas noch nie erlebt hätte – wie Recht du doch hattest!«
Wir hatten uns in einer Kneipe an der Overland getroffen, wo ich inzwischen zehn Tage eines vierwöchigen Engagements abgearbeitet hatte. Nach der Vorstellung kam er zu mir nach vorn, fragte, ob er mich auf einen Drink einladen und sich mit mir unterhalten dürfe, und ich sagte, na klar. Er erzählte, dass er für eine englische Zeitung arbeitete und ein Buch über Hollywood schreiben wollte. Ich lachte und meinte, er hätte sich vielleicht nicht gerade den richtigen Ort dafür ausgesucht, denn hier trieben sich höchstens fette Biertrinker und zweifelhafte Blondinen herum. Er erwiderte, in seinem Buch ginge es mehr um die Grauzonen von Hollywood als um Hollywood selbst. Über Hollywood gäbe es weiß Gott genug Bücher, sagte er, und er wolle etwas Besonderes machen.
Wir unterhielten uns eine Zeit lang und wechselten dann auf meinen Vorschlag hin den Standort. Ich gebe zu, dass ich dafür gewisse Gründe hatte. Ich dachte, wenn ich meine Karten richtig ausspielte, könnte er mir vielleicht nützlich werden. Möglicherweise wäre er der Schlüssel zu der Veränderung, die ich anstrebte. Als Journalist bei einer großen englischen Zeitung wäre er unter Umständen weniger befangen und hätte weniger Vorurteile, als sie mir üblicherweise sonst begegneten. Jedenfalls sah ich es als Chance, und eine Chance war genau das, was ich brauchte.
Er sah nicht einmal zu dem Kellner auf, der die bestellten Drinks brachte – einen doppelten Martini für ihn, ein Bier und einen Wodka für mich. Ohne die Augen von den Anwesenden zu nehmen, nippte er an seinem Glas. Besonderes Interesse zeigte er an einem Typen im weißen Smoking, der an einer Ecke der Bar lehnte, eine Zigarette rauchte und irgendwie wirkte, als gehöre der ganze Laden ihm persönlich – was in gewisser Weise auch zutraf. Der Typ zog an seinem Glimmstängel, entdeckte mich und nickte einen kurzen Gruß herüber. Für Christopher hatte er lediglich einen uninteressierten Blick übrig; er nahm zur Kenntnis, dass er anwesend und mit mir gekommen war. Dann wandte er sich wieder den beiden dicken Männern zu – und wenn ich dick sage, meine ich es auch –, die auf Barhockern am Tresen saßen. Mit schiefem Lächeln sah er zu, wie einer der Männer auf das Flaschenregal hinter dem Barkeeper deutete.
»Reich mir doch bitte mal die Flasche da, Sascha«, sagte er.
»Welche Flasche, Mr Welles?«
»Die da drüben, genau unter der Lampe.«
Der Barkeeper streckte sich und holte eine Weinflasche mit einem auffallend einfachen Etikett aus dem Regal. Der gargantueske Kunde nahm sie und drehte sie erstaunlich geschickt zwischen seinen dicken rosa Wurstfingern. »Einer
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