Stadt der Sterne strava2
die Kutsche anhalten, damit sie sich beide hinknien und Lucien ihre Dolche dar
bieten konnten. Falco war es nicht möglich, richtig zu knien, doch er lehnte sich vor und beugte mit schmerzverzerrtem Gesicht das gesunde Knie.
Zusammen stimmten die Brüder an:
»Beim hohen Haus der Blumen-Stadt
Sei unser Wort dir hier verbürgt,
Und wenn es keine Geltung hat,
Ist unser Leben dein, verwirkt.«
Sie drängten Lucien, ihre Dolche zu ergreifen und ihnen die Handgelenke zu rit
zen.
Sie wollen Blutsbrüder werden, dachte Georgia, aber das war es doch nicht ganz.
Die beiden jungen Adligen hielten Lucien ihre Handgelenke entgegen, auf denen kleine rote Blutstropfen leuchteten, und bedeuteten ihm, seine Lippen darauf zu legen. Georgia schauderte, doch Lucien zögerte nicht. Sobald er das Blut gekos
tet hatte, das die Chimici aus freiem Willen vergossen hatten, bemerkte Georgia, wie sich Cesare neben ihr entspannte.
Als alle wieder eingestiegen waren, hatte sich die Atmosphäre in der Kutsche gänzlich verändert.
»Fahr zu!«, wies Gaetano den Kutscher an und steckte seinen Dolch wieder ein.
Sie hatten das Tor des Mondes schon vor geraumer Zeit passiert und fuhren nun in südliche Richtung, doch niemand in der Kutsche schenkte dem Weg sonderlich Beachtung.
Nun zweifelte keiner mehr daran, dass die Chimici für sich behalten würden, was immer ihnen erzählt werden würde.
Und Georgia wurde klar, dass sie zum ersten Mal Luciens wahre Geschichte er
fahren würde.
»Ich war ein Stravagante aus einer anderen Welt, wie Georgia«, begann er. »In jener Welt war ich sehr krank – nicht so wie Falco, sondern es war eine langsam fortschreitende Krankheit, die meinen Körper verzehrte.«
Gaetano nickte. »Auch wir kennen solche Krankheiten, leider nur zu gut.«
»Als ich das erste Mal hierher reiste«, fuhr Lucien fort, »oder, um genauer zu sein, nach Bellezza, in meine Stadt, fühlte ich mich wieder völlig gesund.«
Falcos Augen begannen aufzuleuchten und Gaetano zog hörbar die Luft ein. »Bedeutet das, dass Falco geheilt wäre, wenn er in eure Welt reisen würde?«
»Ich glaube nicht«, erwiderte Lucien. »Vielleicht würde es ihm besser gehen, aber ich glaube nicht, dass seine verkrüppelten Knochen geheilt wären. Im besten Fall würde er kräftiger. Und die Besserung würde auch nicht anhalten, wenn er hierher zurückkehren würde.« Er hielt kurz inne.
»Auch wenn ich in Talia immer gesund war, ging es mir daheim in meiner Welt eher schlechter. Und dann wurde ich in Bellezza entführt. Die Stravaganza bringt es mit sich, dass es in der anderen Welt jedes Mal Nacht ist, wenn in Talia Tag herrscht. Wenn ein Stravagante aber über Nacht in Talia bleibt, wird man ihn in seiner eigenen Welt während des Tages schlafend vorfinden – und mit keinem Mittel wecken können. Ich konnte nicht in meine Welt zurückkehren, während man mich gefangen hielt, weil man mir meinen Talisman, mit dessen Hilfe ich reiste, entwendet hatte. Und während all der Zeit schien mein Körper in meiner Welt im Koma zu liegen – versteht ihr, wenn ein Mensch noch atmet, aber ansonsten wie tot erscheint?«
»Ja. Wir nennen es Morte Vivenda – der lebende Tod«, flüsterte Gaetano. »Es kommt manchmal nach einem Reitunfall vor. Aber die Opfer sterben dann meistens kurz danach.«
Lucien nickte. »So war es auch mit mir. Bald konnte mein Körper in der anderen Welt nicht mehr selbstständig atmen.«
»Und du bist gestorben?«, fragte Falco und seine riesigen Augen schienen das gesamte Gesicht einzunehmen.
Lucien zögerte. »Ich komme aus einer Zeit, die weit in der Zukunft liegt«, sagte er und wählte seine Worte sorgfältig. »Die Ärzte können Menschen mit Maschinen eine Weile am Leben halten. Ich weiß nicht genau, was mit mir geschah, aber ich glaube, man hat mich eine Zeit lang künstlich beatmet. Doch dann konnten auch Maschinen nicht mehr weiterhelfen und ich starb.«
In der Kutsche herrschte langes Schweigen und Georgia bemerkte, dass sie den Atem anhielt.
»Wie dem auch sei«, fuhr Lucien rasch fort. »Irgendwann wusste ich plötzlich, dass ich hier in Talia zwar am Leben, aber in meiner eigenen Welt gestorben war.
Seit jenem Tag, der jetzt ungefähr ein Jahr zurückliegt, bin ich Bürger von Talia, stehe unter dem Schutz meines Herrn, des Regenten, und lebe bei meinen Zieheltern, Doktor Crinamorte und seiner Frau.«
»Und du kannst nicht zurückkehren?«, fragte Falco.
»Nicht für immer, nein. Ich kann jetzt nur
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