Stadt, Land, Kuss
gegangen.«
»Ooohhh!«, heult Ally erneut auf.
Frances geht, den Schuhkarton in den ausgestreckten Händen haltend, rückwärts durch die Schwingtüren und verschwindet im Flur nach hinten.
»Was ist denn passiert, Ally?«, frage ich.
»Ich habe heute Morgen den Käfig geöffnet, um Harry seinen halben Keks zu geben – er liebt Vollkornkekse über alles –, und da habe ich ihn unten in der Röhre gefunden, die zu seinem Penthouse führt.« Sie stopft sich ein zusammengeknülltes Taschentuch zwischen die Lippen und kann nicht mehr weitersprechen.
Wer hat ihn überhaupt für tot erklärt? Ally oder Frances?
»Frances!« Ich finde sie in der Waschküche, der Schuhkarton steckt im Abfalleimer. Sie hat einen Finger auf dem Knopf der Abfallpresse. »Halt!«
Frances richtet sich ein Stückchen auf, aber ihr Finger verharrt auf dem Knopf.
»Ich bin gleich wieder zurück am Empfang, Maz.«
»Drücken Sie nicht auf den Knopf. Ich will mir Harry erst noch ansehen.«
»Warum? Er ist doch tot«, sagt sie und tritt einen Schritt zur Seite, damit ich über ihre Schulter in die Presse schauen kann. »Sehen Sie selbst.«
Harry liegt zusammengerollt auf einem Nest aus Küchenpapier.
»Darf ich?« Ich greife an Frances vorbei, und ihr Polyesterkleid knistert statisch, als ich es berühre. Ich hole Harry aus der Presse und halte ihn in der hohlen Hand. Er ist kühl und glatt wie ein Strandkiesel. Aber ich bin mir ziemlich sicher, dass sich sein Brustkorb ganz sacht hebt und senkt und ich einen kaum wahrnehmbaren Herzschlag spüre. »Er lebt noch. Gerade so.«
»Glauben Sie?« Frances weicht von der Presse zurück. Ihr Gesicht ist vor Schreck kalkweiß, als hätte sie einen Geist gesehen, und in gewisser Weise hat sie das wohl auch.
Allmählich verstehe ich, warum Ally so an Harry hängt – er hat eine unglaublich süße kleine Nase und winzige Schnurrhaare, und er ist ein Kämpfer.
»Ich rede mit Ally«, erkläre ich, und Frances holt den Inkubator aus dem Schrank, sodass ich Harry auf dem Weg nach draußen darin ablegen kann.
Man könnte Harrys Zustand als Scheintod bezeichnen, hervorgerufen durch einen starken Temperaturabfall. Das ist eine natürliche körperliche Reaktion, die den Tieren in der Wildnis das Überleben sichert. Ich bezweifle jedoch, dass sie bei Hamstern in Gefangenschaft den gleichen Vorteil hat – wie viele sind wohl schon von ihren wohlmeinenden Besitzern lebendig begraben worden?
Ich weiß, das klingt makaber. Aber ich bin in morbider Stimmung, weil ich nicht weiß, wie es Alex geht.
Ich sage Izzy Bescheid, dass Emma und sie sich um Harry kümmern sollen, während Frances mich ins Krankenhaus fährt. Emma sieht aus, als hätte sie sich einen Magen-Darm-Virus oder Malaria eingefangen und könnte sich kaum noch auf den Beinen halten. Glorias Tiere brauchen mich. Das Otter House braucht mich. Halt durch, ermahne ich mich. Ich habe keine andere Wahl, und wenn ich ehrlich bin, würde ich es auch gar nicht anders wollen. Es fühlt sich gut an, gebraucht zu werden.
Frances setzt mich ab und geht einkaufen, während ich meine Verbände wechseln lasse und dann gleich zu Alex eile. Mein Körper vibriert vor Nervosität. Was werde ich vorfinden?
»Haben Sie eigentlich kein Zuhause?«, frage ich, als ich Debbie sehe, die mit einem Stift in der einen und einem Schokoladenkeks in der anderen Hand hinter ihrem Tresen sitzt.
»Hallo, Maz«, begrüßt sie mich fröhlich.
»Wie geht es ihm heute?«
»Das müssen Sie ihn schon selbst fragen.«
»Er ist wach?« Mein Puls flattert hoffnungsvoll. »Heißt das, er wird wieder ganz gesund?«
»Sagen wir, es sieht ganz gut aus, aber …«
»Es ist noch zu früh, um etwas Endgültiges zu sagen. Wir müssen abwarten. Ich weiß …«, falle ich ihr ins Wort.
Debbie lächelt. »Sie könnten meinen Job übernehmen. «
»Oh, ganz bestimmt nicht. Tiere können einem zwar nicht sagen, was ihnen fehlt, aber wenigstens geben sie keine Widerworte.« Ich mache eine Pause. »Kann ich zu ihm?«
»Sie werden sich noch ein paar Minuten gedulden müssen.« Debbie mustert mich belustigt. »Er hat gerade Besuch.«
»Von seinen Eltern?«
»Sie hat nicht gesagt, wer sie ist, doch sie ist schon die dritte Besucherin heute. Unser Alex hat einen ganz schönen Erfolg bei Frauen.« Debbie wirft einen Blick auf die Uhr hinter ihr. »Sie hatte ihre fünfzehn Minuten. Ich schicke sie jetzt raus. Wir dürfen ihn nicht überanstrengen. «
Es ist Eloise. Als wir einander im Flur
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