Stadtfeind Nr.1
nachvollziehen kann, bin ich doch nicht allzu optimistisch für ihn.
Ich halte mich nicht damit auf, mich zu rasieren oder zu duschen oder auch nur die Zähne zu putzen, als ich am nächsten Morgen aufwache, sondern rolle mich nur aus dem Bett und mache mich in meinen Boxershorts sofort auf den Weg nach unten, um an meinem Manuskript weiterzuarbeiten. Gestern Abend, kurz vorm Einschlafen, Carlys Küsse in Gedanken immer noch auf meinen Lippen, sprudelte ich über von Ideen für den Roman: Wendepunkte der Handlung, Eigenheiten der Charaktere, Ausdrücke und selbst ganze Absätze entstanden in meinem Kopf, die ich jetzt schriftlich festhalten will, bevor ich sie vergesse. Ohne Morgentoilette zu schreiben erscheint mir irgendwie besser und dem ganzen Unternehmen förderlicher, als würde ich durch die Vernachlässigung aller oberflächlichen Überlegungen all meine Energien in die internen Schaffensprozesse lenken. Und so sitze ich nun da, mit schalem Atem, fettigem und wirrem Haar, mit stoppeliger, ungewaschener Haut, und komme mir mehr als je zuvor wie ein Schriftsteller vor. Ich nehme an, dass Hemingway sich nicht mit Aftershave und Zahnbürsten abgegeben hat, wenn er mitten im Schreiben steckte.
In diesem schmuddeligen Aufzug öffne ich die Haustür, als es klingelt, und sehe Lucy Haber auf meiner Türschwelle, ein Exemplar von Bush Falb an die Brust gedrückt. Sie hat ihr Make-up mit schwerfälliger Hand aufgetragen, und unwillkürlich denke ich zum ersten Mal, dass in ihrem Erscheinungsbild ein Element von Verzweiflung liegt, ein zu großes Bemühen für eine Frau ihres Alters, und dann schäme ich mich für einen solch herzlosen Gedanken. Mein Gesicht auf der Rückseite des Umschlags, das von ihrer Brust zu mir hochsieht, erscheint mir wie ein Vorwurf. »Habe ich dich geweckt?«, fragt sie, als sie mein ungepflegtes Erscheinungsbild in Augenschein nimmt.
»Nein. Ist schon okay.« Unwillkürlich wünsche ich mir, ich hätte wenigstens ein T-Shirt übergestreift.
»Ich dachte, du würdest mich vielleicht besuchen kommen«, sagt sie und blickt dabei höchst unbehaglich. »Nicht dass ich dir Vorwürfe mache, dass du nicht gekommen bist.«
»Es tut mir Leid. Ich ... ich habe es eben nicht getan.«
Lucy tut meine Verlegenheit mit einer Handbewegung ab. »Ist schon okay. Ich will dich nicht in eine unangenehme Situation bringen. Deswegen bin ich an jenem Morgen so früh gegangen.«
»Es tut mir Leid«, sage ich noch einmal. Offenbar bin ich außer Stande, irgendetwas anderes zu sagen.
»Ich dachte nur, du seist inzwischen wieder abgefahren, und als ich gestern vorbeifuhr und deinen Wagen sah, da dachte ich, ich könnte vorbeikommen und mich richtig verabschieden.«
»Das weiß ich zu schätzen. Möchtest du reinkommen?«
Lucy lächelt. »Nein danke.«
»Ich wollte nicht - ich wollte damit nichts andeuten.«
»Nein. Ich weiß.« Sie reicht mir das Buch und einen silbernen Kugelschreiber. »Würdest du mir das signieren?«
»Na klar«, sage ich und nehme das hingehaltene Buch. »Es ist lange her, seit mich irgendjemand darum gebeten hat.« Ich schlage das Buch auf der Widmungsseite auf und schreibe Liebe Lucy; dann halte ich ein paar Augenblicke inne, um mir meine Widmung zurechtzulegen. Du warst meine Muse und meine Fantasie, und jetzt schätze ich mich glücklich, dich eine Freundin zu nennen. Mit allen guten Wünschen, Joseph Goffman. Sie liest die Widmung und lächelt. »Umarme mich.«
Ich umarme sie, und die Knöpfe ihrer Bluse bohren sich in meinen nackten Oberkörper. Es gibt keine sexuellen Absichten, aber ich denke, manche Menschen können sich nur auf eine bestimmte Weise umarmen, und es liegt immer noch eine unbeabsichtigte erotische Energie in unserer Umarmung, mit ihren Händen auf meinem bloßen Rücken, ihrem Bauch, der sich gegen meinen presst. Sie zieht den Kopf zurück und drückt ihre Stirn gegen meine. »Ich hoffe, ich habe die Fantasie nicht zerstört«, sagt sie, und ihr Blick verrät mir, dass es eine echte Sorge ist.
»Ganz und gar nicht«, sage ich. »Du hast sie über meine kühnsten Träume hinaus bestätigt.«
»Es ist süß von dir, dass du das sagst.« Sie beugt sich vor und gibt mir einen sanften Kuss auf die Lippen. »Werd kein Fremder, Joe.«
»Bestimmt nicht.«
Sie richtet sich auf, und ich sehe, dass ihr Tränen in den Augen stehen. Sie lächelt wieder, und ich sehe ihr nach, wie sie die Stufen hinunter zu ihrem Wagen geht. Erst nachdem sie weggefahren ist, bemerke ich
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