Stadtfeind Nr.1
einschlafen. In dieser Position liegen wir immer noch, als gegen drei Uhr morgens Fabia laut an unsere Tür klopft und uns sagt, wir sollten besser sofort nach unten kommen.
Wayne sitzt aufgestützt im Bett, die Augen geschlossen Stirn und Oberlippe von einer Schicht dünner Schweißperlen überzogen. »Was ist los, Wayne?«, sage ich und setze mich zu ihm auf die Bettkante. Carly umrundet das Bett, um sich auf der anderen Seite zu ihm zu setzen. Fabia steht am Fußende des Bettes und sieht hochgradig erregt aus. Waynes Augenlider gehen flatternd auf, aber er kann sie nicht wirklich offen halten, und sie zucken in unregelmäßigen Abständen, als würde irgendein interner Motor abgestellt werden, was irgendwie auch der Fall ist. Unter erheblicher Anstrengung schafft er es, für ein paar Sekunden Blickkontakt zu mir aufzunehmen, bevor seine Lider wieder zufallen. »Joe«, flüstert er, und seine Stimme klingt fern und gedämpft, als würde ich sie direkt aus seiner Kehle hören, ohne dass sie durch seinen Mund kommt.
»Wayne«, sage ich. »Wir sind hier.«
Er nickt, und ich glaube, ich kann das Blut durch seine Haut sehen, das im Schneckentempo durch die Adern auf seiner Stirn fließt, kaum noch angetrieben von der immer schwächer werdenden Pumpe seines Herzens. »Ich denke, es ist an der Zeit«, sagt er nach einer Minute. Irgendetwas Dickes und Nasses hat sich in seine Stimme gemischt, das das Ende jeder Silbe erdrückt. »Es ist so seltsam. Ich dachte, ich würde mehr Angst haben.«
Wir sind im Kino gelandet, in der Sterbeszene. Er wird uns ein Geheimnis verraten, eine lange verschwiegene Indiskretion, einen vergrabenen Schatz, ein Kind, das bei seiner Geburt zur Adoption freigegeben wurde, den Namen eines Mörders, eine Spur, der wir folgen müssen. Carly streckt eine Hand aus und streicht mit den Fingern leicht über seine Stirn und wischt die kleinen Schweißtropfen beiseite, die begonnen haben, über sein Gesicht zu kullern. Er schlägt die Augen noch einmal auf und richtet sie für einen Moment auf Carly. »Sag die Wahrheit«, flüstert er. »Ihr beide habt es heute Abend endlich hinbekommen, stimmt's?«
Carly lächelt, selbst als sich ihre Augen mit Tränen füllen, und nickt. »Ja, das haben wir«, sagt sie leise.
Wayne lächelt. »Gott sei Dank.« Er streckt einen zitternden Arm aus und streicht mit den Fingern sanft über ihr feuchtes Gesicht, führt die Finger dann an seine ausgetrocknete Zunge und schließt die Augen, während er ihre Tränen schmeckt. Ein paar Minuten liegt er einfach da, und seine Brust hebt und senkt sich fast unmerklich schneller, als die Frequenz seiner schwachen Atemzüge zunimmt. Ich kann erkennen, dass ihm das bloße Atmen allmählich schwer fällt. Er macht den Mund auf, um noch etwas zu sagen, aber diesmal ist nur noch ein unverständliches nasses Geräusch zu hören, und die Anstrengung scheint ihn noch mehr zu schwächen. »Es ist okay«, sage ich mit hoher, schwankender Stimme. »Versuch einfach, dich zu entspannen.« Ich spüre, wie sich meine eigene Brust in einer kurzen Folge autonomer Krämpfe hebt, und dann Carlys beruhigende Hand auf meiner Schulter. »Es ist okay, Wayne«, sage ich noch einmal.
Nach vielleicht einer Minute schlägt er noch einmal die Augen auf. »Du wirst dein Buch mir widmen.« Es ist eine Frage, aber ihm fehlt die Kraft in der Stimme, um sie am Ende des Satzes zu heben.
»Natürlich.«
»So, dass ich tapfer klinge.«
»Das werde ich.«
»Aber nicht uncool.«
»Tapfer und cool. Sollst du bekommen.«
Carly beugt sich vor und küsst ihn auf die Stirn. Einen Augenblick später tue ich dasselbe, und seine Haut ist heiß und salzig auf meinen Lippen. Als ich mich zurücklehne, hat er. die Augen wieder geschlossen, aber seine Lippen haben ein mattes Lächeln geformt. Danach bewegt sich sein Mund noch ein- oder zweimal, aber es kommt kein Laut mehr hervor.
Der Tod setzt in seinem Gesicht ein und arbeitet sich dann nach unten durch, wie jemand, der sein Geschäft schließt und die. Lichter ausschaltet, während er durch das Gebäude geht. Erst hören Waynes Augen auf zu flackern, dann schließt sich sein Mund, und seine Lippen legen sich leicht kräuselnd aufeinander. Seine Brust hebt und senkt sich noch etwa eine halbe Stunde sanft, wobei die Bewegung immer schwerer zu erkennen ist, bis schließlich feststeht, dass sie aufgehört hat. Während dieser Zeit sitzen Carly und ich schweigend zu seinen beiden Seiten und streicheln ihm sanft über
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