Stadtfeind Nr.1
eines jeden Tages war begrenzt, der Platz in meinem Gehirn war eingeengt. Später würde ich mir sagen, dass ich ohnehin nichts hätte ausrichten können, und vielleicht stimmte das ja sogar. Sammy schien auf eine fatalistische Weise entschlossen, dem Lauf der Dinge zu folgen, der für ihn vorgezeichnet war. Aber es ließ sich nicht leugnen, dass ich ihn im Laufe der Zeit bewusst immer seltener sah, einfach weil ich mich an seinem trostlosen Elend auf eine unerklärliche Weise schuldig fühlte, als sei ich irgendwie für seine Zwangslage verantwortlich, und ich wollte nicht schuldig oder verantwortlich sein. Endlich lief für mich alles so, wie ich wollte, und ich hätte schön blöd sein müssen, es nicht zu genießen.
Ich hatte eine feste Freundin und einen besten Freund, was vielleicht nicht nach viel klingt, aber es war alles, was ich je wollte. Allein schon in der Mittagspause Händchen haltend mit Carly über das Schulgelände zu spazieren, für alle offensichtlich, erfüllte mich mit einer solch überschwänglichen Lebensfreude, wie ich sie noch nie zuvor empfunden hatte. Wir saßen zusammen in der Cafeteria, tauschten kleine Küsse und stahlen uns mitunter hinter die verlassene Bühne der Aula, wo es mit Küssen allein nicht getan war.
Wayne erzielte in diesem Jahr die meisten Punkte für die Cougars, und Carly und ich gingen zu jedem Spiel, auswärts und zu Hause, wo wir ihm zum Spaß wie fanatische Fans zujubelten. Es war so umwerfend, mit Carly auf der Tribüne zu sitzen, zu lachen, zu schreien, sie zu umarmen und sich jubelnd mit einer Hand zuzuklatschen, wenn Wayne einen Punkt erzielte, dass ich völlig vergaß, wie sehr ich Cougars-Spiele bis zu diesem Zeitpunkt gehasst hatte. Ich empfand sie nicht mehr als schmerzhafte Erinnerung an mein Scheitern als Sportsmann, sondern nur als noch einen Ort, an dem ich zusammen mit einem Mädchen als ihr Freund Spaß haben konnte. Nach den Spielen luden wir Wayne zur Feier seines Sieges zum Dinner ein, und wir drei hingen bis zur Polizeistunde zusammen herum, schwindelig von seinem Sieg, die Stimmen heiser vom Schreien und Lachen. Später setzten wir Wayne zu Hause ab und fuhren dann noch hoch zu den Wasserfällen. Carlys Hand rieb und streichelte bereits an mir, während ich fuhr und sie mir, die Zunge in meinem Ohr, sagte, ich solle mich doch beeilen.
Ich hatte immer unter dem Eindruck gestanden, dass es nette Mädchen und sexy Mädchen gab. Carly war in einer Begabtenklasse, Redakteurin der Schülerzeitung und Liebling des Lehrkörpers der Bush Falls High. Aber sie verstand es auch, sich meine Hand zu schnappen und sie in ihre geöffnete Jeans zu schieben, sich leidenschaftlich gegen sie zu pressen und ohne eine Spur von Schüchternheit zu stöhnen, während sie mir so hart auf die Unterlippe biss, dass ein Blutstropfen hervorquoll.
Carly verbrachte jeden Morgen die erste halbe Stunde im Klassenzimmer damit, eifrig in ein abgegriffenes ledergebundenes Tagebuch zu kritzeln. Sie war schrecklich besorgt wegen der allgemeinen Vergänglichkeit der Dinge und der unvollkommenen, willkürlichen Natur des Gedächtnisses. Das war die einzige Zwanghaftigkeit in ihrer ansonsten entspannten Art, diese Vorstellung, dass bestimmte Gefühle und Gedanken unwiederbringlich an die Launen der Zeit und der Distanz verloren gehen könnten. »Jetzt sind wir in dem Alter«, erklärte sie mir einmal, als wir zusammen von der Schule nach Hause gingen, »in dem wir in der reinsten Form von uns sind, in der wir je sein werden. Wir sind noch nicht durch alles Mögliche verkompliziert worden. Ich will ein klares Zeugnis darüber, wer ich bin, damit ich später einmal sehen kann, wer ich war. Vielleicht kann ich auf diese Weise vermeiden, mich völlig zu verlieren.«
Obwohl ich ihr umfassenderes Bewusstsein bewunderte, hatte es doch etwas leicht Beunruhigendes, als sei sie ein Orakel, das die unheilvollen Anzeichen bereits erkannte, für die ich blind blieb. »Aber du wirst doch immer du sein«, sagte ich. »Oder nicht?«
Sie seufzte und biss sich nachdenklich auf die Lippe. »Dinge passieren«, sagte sie. »Kleine Dinge und große Dinge, und sie verändern dich einfach, Stück für Stück, bis keine Spur mehr davon zu erkennen ist, wer du einmal warst. Wenn ich mich verliere, wird dieses Tagebuch wie ein Zeugnis darüber sein, wer ich war, eine Spur aus Brotkrumen, um den Weg zurückzufinden.«
»Wenn das so ist, könntest du mich dann bitte ebenfalls darin festhalten?«, sagte, ich.
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