Stadtfeind Nr.1
»Es wäre schön zu wissen, dass es jemanden gibt, der nach mir Ausschau hält, falls ich mich je verlieren sollte.«
»Aber was ist, wenn wir nicht mehr zusammen sind?«, fragte sie, praktisch wie immer.
»Dann wird es heißen, dass sich zumindest nur einer von uns verloren hat«, sagte ich. »Mach mir einfach eine Kopie dieses Tagebuchs, und es wird mich direkt zu dir zurückführen.«
Sie hielt auf der Straße an und umarmte mich, die Stirn gegen meine gedrückt, die Augen geschlossen. »Es wäre schön, wenn es wirklich so funktionieren würde«, murmelte sie.
»Es sind schon seltsamere Dinge passiert«, sagte ich.
»Trotzdem«, sagte sie. »Ich glaube, es wäre besser, wenn wir einfach zusammenbleiben würden.«
Ich küsste sie leicht auf die Nase und sagte: »Abgemacht.«
17
Brad und ich nehmen unsere beklemmende Wache am Bett unseres Vaters wieder auf, als hätten sich die Ereignisse der letzten Nacht nie zugetragen. Er nimmt mein ramponiertes Gesicht und meine blutunterlaufenen Augen zur Kenntnis, und ich kann erkennen, wie sich ein Satz hinter seinen Augen formt. Aber eine Art interner Zensor, etwas, was mir bedauerlicherweise fehlt, hält die Worte gnädiger weise auf, bevor sie aus seinem Mund kommen können. Er nickt mir nur zu und verharrt schweigend. Wir schlürfen unsere Automatenkaffees, blättern in Zeitschriften, die wir uns unten in dem kleinen Krankenhausshop geholt haben, und übernehmen es abwechselnd, uns hin und wieder ein paar halbherzige Gesprächsbrocken hinzuwerfen, die sich ausnahmslos in einem verlegenen Schweigen verlieren, umrahmt von dem anhaltenden, gleichmäßigen Surren des Beatmungsgeräts. Die regelmäßigen Besuche der Krankenschwester, die kommt, um den vollen Katheterbeutel gegen einen leeren auszuwechseln oder die Vitalfunktionen meines Vaters aufzuzeichnen, sind willkommene Unterbrechungen der Monotonie, die uns - wenn auch in begrenztem Maße -eine Möglichkeit für oberflächliche Erkundigungen und Erörterungen bieten. Brad ist heute allein gekommen, ohne mir eine Erklärung für Cindys auffällige Abwesenheit zu geben, und ich hüte mich davor, ihn danach zu fragen. Wenn ich in den letzten vierundzwanzig Stunden etwas gelernt habe, dann, dass alles eine Falle ist.
Gegen eins gähnt Brad und verkündet, dass er gehen muss, um irgendetwas in der Fabrik zu überprüfen. Er kritzelt seine Handynummer auf die Rückseite einer Zeitschrift für den Fall, dass irgendetwas passieren sollte, und verschwindet, mit gefurchter Stirn, in seine eigenen undurchsichtigen Grübeleien vertieft. Ich bin bekümmert und zugleich erleichtert darüber, dass er geht.
Brad ist vielleicht zehn Minuten fort, als die Tür aufschwingt und Coach Dugan ins Zimmer tritt. Jedes Organ in meinem Körper krampft sich bei seinem Anblick zusammen. Nach dem Zwischenfall des gestrigen Abends lässt sich seine Anwesenheit hier unmöglich verarbeiten, und ich richte mich nur auf meinem Stuhl auf und starre ihn an.
»Joseph«, sagt er und nimmt seine Baseballmütze ab, als er ins Zimmer tritt.
»Hallo, Coach«, sage ich, in der Hoffnung, dass sich meine Stimme nicht so zitterig anhört, wie es mir vorkommt. Dugan ist einer dieser Männer, die durch ihre bloße Anwesenheit Aufmerksamkeit fordern, selbst in einer überfüllten Turnhalle. In der Beengtheit des Krankenzimmers ist er ein Riese, viel zu breit und viel zu wuchtig für .einen solch kleinen Versammlungsort.
Er tritt an das Bett und starrt auf meinen Vater hinunter. »Er sieht nicht sehr gut aus«, sagt er. »Was sagen die Ärzte?«
»Es ist ziemlich übel«, sage ich.
Dugan knurrt. »Er ist ein guter Mann. Und wenn er weiß, dass er im Koma liegt, dann möchte ich wetten, dass er stocksauer deswegen ist. Er hat etwas Besseres verdient als das.« Seine Worte scheinen untergründig die Spur eines Vorwurfs zu enthalten, aber ich kann es nicht genau benennen. Es ist einfach zu befremdlich, überhaupt in ein Gespräch mit ihm verwickelt zu sein. Dugans tiefe, raue Stimme ist dazu bestimmt, vor Teams und Gruppen zu sprechen, und es hat etwas Erdrückendes, auf persönlicher Ebene von ihm angesprochen zu werden. »Wo ist
Brad?«
»Er musste für ein paar Minuten rüber ins Büro.« »Sag ihm, dass ich vorbeigeschaut habe.«
»Na klar.«
Zu meiner Verblüffung beugt sich Dugan vor und drückt meinem Vater einen trockenen Kuss auf die Schläfe. Dann richtet er sich auf und schreitet zur Tür, reißt sie auf und wendet sich dann noch einmal zu
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