Stadtfeind Nr.1
wollte euch nur warnen«, sagte ich. »Ihr wisst schon, bevor ihr morgen in der Schule aufkreuzt.«
»Scheiße, Scheiße, Scheiße, Scheiße, Scheiße«, sagte Wayne im Flüsterton, mit völlig ausdrucksloser Miene. »Wayne«, sagte Sammy.
»Scheiße!«, brüllte Wayne und sprang auf. »Ich muss hier raus.«
»Ich komme mit«, sagte Sammy und wollte sich gleichfalls erheben.
»Nein«, sagte Wayne. »Ich will allein sein.« Erschnappte sich seine Jacke von einem Stuhl in der Küche und stürmte zur Haustür hinaus.
Sammys Augen füllten sich mit Tränen. »Du solltest ihm besser nachlaufen«, sagte er zu mir. »Das wird ihn sonst noch umbringen.« »Und was ist mit dir?«, sagte ich.
Sammy wandte sich zu mir um, Tränen liefen ihm hemmungslos über die Wangen, und er warf mir den erbärmlichsten Blick zu, den ich je gesehen hatte. »Von mir wussten sowieso schon alle, dass ich eine Schwuchtel bin«, sagte er leise, und für den Bruchteil einer Sekunde empfand ich einen heftigen Drang, die Hände auszustrecken und ihn zu würgen. Stattdessen wandte ich mich ab und rannte zur Haustür, einen undeutlichen Abschiedsgruß in Lucys Richtung murmelnd, die noch immer reglos in der Diele stand und mit einer leidgeprüften Miene, die ihr tief ins Gesicht geschnitten war, die Wand anstarrte.
Als ich nach draußen kam, war Wayne verschwunden, und mit ihm mein Fahrrad.
Ich benötigte eine halbe Stunde, um nach Hause zu laufen, und als ich ankam, wartete zu meiner Verblüffung mein Vater in der Küche auf mich, ein Stirnrunzeln im Gesicht. Es war nicht das Stirnrunzeln, das mich verblüffte; es war die Tatsache, dass er auf mich wartete. »Ich habe eben mit Coach Dugan telefoniert«, sagte er langsam, wobei er gedankenverloren seine massigen Finger knetete, sodass die Knöchel knackten.
»Ach ja?«
»Er sagte, Wayne Hargrove sei homosexuell. Er und dieser Bursche, der im letzten Sommer an der Presse gearbeitet hat.«
»Warum zum Teufel ruft er dich denn wegen einer solchen Geschichte an?«, sagte ich. »Er will die Richtigkeit überprüfen.« »Ist der Coach auf der Suche nach einem Date?« »Pass auf, was du sagst, Joe«, sagte mein Vater streng. »Der Coach muss an ein ganzes Team von Jungen denken. Das ist eine ernste Angelegenheit.«
»Diese Angelegenheit geht niemanden was an«, sagte ich.
Er sah mich scharf an und legte dann den Kopf ein wenig schräg, als sei ihm auf einmal ein neuer Gedanke gekommen. »Bist du homosexuell?«, sagte er, wobei er mich mit zusammengekniffenen Augen ansah.
»Was ist denn das für ein plötzliches Interesse an meinem Sexualleben, Dad?«
»Antworte nur auf die gottverdammte Frage!«, brüllte er mich an und schlug mit der Faust auf den Tisch.
Ich lehnte mich gegen den Türrahmen und seufzte. »Dad«, sagte ich leise. »Ich habe eine Freundin.«
Er blinzelte mich verblüfft an.
»Wirklich?«, sagte er, ein wenig zu skeptisch für meinen Geschmack. »Danke für den Vertrauensbeweis.« »Ich wusste es doch nicht«, sagte er mit erleichterter Miene.
»Ich kann mir gar nicht erklären, wieso es in all den tiefsinnigen Unterredungen, die wir geführt haben, nie zur Sprache gekommen ist.« »Wie heißt sie denn?«
»Oh, bitte«, sagte ich und wandte mich zur Treppe. »Erspar mir das.«
»Wohin willst du?«
»Bisschen Crack rauchen. Siehst du? Es gibt noch etwas, was du nicht von mir wusstest.«
Im Dielenspiegel warf ich einen Blick auf ihn, wie er mit aufgerissenem Mund dastand und völlig entgeistert auf meinen Hinterkopf starrte, und ich nahm an, dass es ein paar Jahre dauern würde, bevor er wieder versuchen würde, ein Gespräch mit mir anzuknüpfen.
Wayne tauchte gegen ein Uhr morgens auf und warf Kieselsteine gegen mein Fenster. Ich ging nach unten, um ihn ins Haus zu lassen, und wir schlichen auf Zehenspitzen wieder hoch in mein Zimmer. Auf meinem Bett klappte er zusammen, noch immer zitternd, das Gesicht angespannt und rau von der Kälte. »Ich bekomme es nicht in den Griff«, sagte er, während er nervös auf dem Bett auf und ab hopste und sich in die Hände blies. »Es ändert sich mit jeder Minute. Manchmal denke ich, es ist eines von diesen Dingen, die nach ein paar Tagen verrauchen werden, und manchmal denke ich, nichts wird je wieder so wie vorher sein.«
Ich selbst favorisierte bedrückt die letztere Auffassung, nahm aber nicht an, dass er das in genau diesem Augenblick hören musste. »Vielleicht solltest du für ein paar Tage nicht zur Schule gehen«, sagte ich.
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