Stadtgeschichten - 04 - Tollivers Reisen
sich an den Mann namens Walter. »Wie ist es, Sir? Wollen Sie’s mal ausprobieren?«
»Nee danke«, war die mürrische Antwort.
»Ach Walter, sei doch nicht so piefig.« Seine Frau gab ihm einen kleinen Schubs.
»Phyllis …!«
Der Führer streckte seine große fleischige Pranke aus und ermunterte sein Opfer. »Kommen Sie, Sir. Na also, das nenn ich Sportsgeist. Wir wär’s mit etwas Applaus für den Gentleman?«
Selbst Michael verfolgte nun das Mißgeschick des Mannes und schloß sich dem Beifall an, während der glücklose Walter auf dem an Seilen hängenden Stuhl Platz nahm und auf und nieder wippte. Das Gelächter, das nun folgte, war genau die Ablenkung, auf die Wilfred gewartet hatte. Als Michael sich nach ihm umsah, war er verschwunden.
Seine Abwesenheit fiel nicht auf, als die Gruppe eine kurze Treppe erklomm und in den Salon geführt wurde. Er wurde auch nicht vermißt, als man die Bibliothek und das Damenzimmer besichtigte. »Das Damenzimmer«, erläuterte der Führer, »wird manchmal auch Boudoir genannt. Weiß jemand, was boudoir im Französischen bedeutet?«
Fehlanzeige.
»Nun, boudoir ist das französische Wort für › schmollen‹. Das ist also der Ort, wohin sich die Damen von Easley House zurückzogen, um sich über das unmögliche Benehmen ihrer Gatten zu ärgern.« Ein herzhaftes männliches, glucksendes Lachen. »Ich nehme an, die anwesenden Damen können davon auch ein Lied singen.«
Allgemeines Gekicher. Michael schaute besorgt den Flur hinunter, doch Wilfred war nirgends zu sehen. Er hätte den Jungen erwürgen können.
Der Führer bugsierte die Gruppe auf einen Hof hinten dem Haus, wo er auf die Stallungen, den Ziergarten und einen pyramidenförmigen Pavillon auf der Spitze des Hügels hinwies, der das Anwesen überragte. »Sie können gern ein bißchen herumlaufen«, sagte er, »aber gehn Sie nicht zurück ins Haus. Wir treffen uns in dreißig Minuten auf dem Parkplatz. Ich bitte darum, daß alle pünktlich sind. Vielen Dank.«
Michael trieb sich im Ziergarten herum und behielt das Haus im Auge. Er überlegte, wie er sich am besten aus der Affäre ziehen sollte, falls Wilfred nicht mehr auftauchte. Mit dem erträglichsten Plan, der ihm eingefallen war, versuchte er es fünf Minuten vor der Abfahrt auf dem Parkplatz.
»Ich brauche keine Fahrt zurück nach Moreton-in-Marsh«, sagte er zum Fahrer. »Ich werde über Nacht in Easley-on-Fen bleiben.«
»Und Ihr Freund?«
Mist. Er hatte es bemerkt. »Ach … der ist schon vor zwanzig Minuten ins Dorf gegangen. Er fühlte sich nicht gut und … wollte sich im Gasthof ein bißchen hinlegen.«
»Verstehe. Dann fahren Sie mit uns bloß bis zum Dorf?«
»Na ja … es ist ja nur über die Wiese. Ein bißchen Bewegung wird mir sicher …«
»Trotzdem, Sir …«
»Schön. Meinetwegen. Ist mir recht. Klar. Danke.«
Also fuhr er mit dem Bus zurück ins Dorf.
»Da«, sagte er und zeigte auf den ersten plausibel wirkenden Gasthof. »Das ist es. Das ist unser Quartier. Lassen Sie mich einfach an der Ecke raus.«
Der Fahrer grummelte etwas und hielt an.
Michael spürte, wie ihm die Blicke der anderen folgten, als er aus dem Bus stieg und zielstrebig den Schankraum des Gasthofs ansteuerte. Drinnen fing er an, Gefallen an seiner absurden Lage zu finden, und ging an den Tresen, um einen Cider zu trinken.
Als er eine Viertelstunde später den Gasthof verließ, fühlte er sich wesentlich besser. Er schaute in beide Richtungen die Straße entlang. Der Bus war nicht mehr zu sehen. Das einzige Fahrzeug, das ihm auffiel, war ein grüner Toyota, der neben dem Gasthof parkte. Es wurde allmählich Abend, und ein ciderfarbener Dunst hatte sich auf die fernen Wiesen gelegt. Am Dorfrand warf eine Reihe von Platanen längliche violette Schatten. Zum erstenmal an diesem Tag war er allein und fühlte sich ruhig und ausgeglichen.
Er machte sich auf den Weg zum Herrenhaus und pfiff den Michael-Jackson-Song mit, der aus dem Gasthof drang. She says I am the one, but the kid is not my son …
Die moosbewachsenen Wände des Hohlwegs blieben hinter ihm zurück, und der ansteigende Weg führte über die Wiesen. Eine Weile leistete er einem Schaf Gesellschaft und machte sich einen Spaß daraus, ihm ein paar idiotische Sachen an den Kopf zu schmeißen. Seine Sicht auf das Haus wurde verdeckt von einem Eichenwäldchen, und er mußte noch ein ganzes Stück laufen, bis er wieder freies Gelände erreichte.
Die Fenster von Easley blitzten in den letzten Strahlen der
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