Stadtgeschichten - 04 - Tollivers Reisen
sie, die kleinen Luken für die Eulen?« Ihr Mann nickte mürrisch. »Ich seh sie, Phyllis. Ich hab ja Augen. Ich seh die Luken.«
Michael und Wilfred bildeten die Nachhut, als die Gruppe durch einen prunkvollen Torbogen aus dem allgegenwärtigen goldbraunen Kalkstein ging. Links von ihnen lag eine Kapelle, überwachsen von Moosflechten und an den Kanten zernagt von fünfhundert Gloucestershirewintern. Die Grabsteine daneben hatten eine verblüffende Ähnlichkeit mit den Zähnen des Fremdenführers.
»Jetzt«, sagte dieser, »kommen wir am Brauhaus vorbei, das bis in die Zeit vor dem ersten Weltkrieg in Betrieb war; in den letzten Jahren kam jeden Herbst eine Braumeisterin mit dem Fahrrad, um die jüngste Gerstenernte zu brauen. Wir werden das Herrenhaus durch den Bogengang betreten, der vor uns liegt, und kommen zunächst in die alte Küche …«
»Mit anderen Worten«, flüsterte Wilfred, »durch den Dienstboteneingang.«
»Benimm dich«, sagte Michael.
Neben dem Eingang war eine verrostete Rasenwalze abgestellt, und daneben lag ein V-förmiges Schild, das anscheinend auf die Sommersaison wartete. In abblätternden Lettern stand darauf: EASLEY HOUSE ZUM TEE GEÖFFNET. Michael stellte sich den arthritischen alten Butler vor, der es am Sommeranfang hinunter zur Straße schleppen würde.
»An den Wänden«, intonierte der Führer, als sie das Haus betraten und im Gänsemarsch durch einen schmalen Flur gingen, »werden Sie diese eigenartigen Eisenstangen bemerken. Der Flur wurde einmal als Speisekammer benutzt, und an den Stangen hingen die Fleischstücke.«
»Siehst du’s?« fragte Phyllis.
»Ich seh’s«, maulte ihr Gatte.
Dann wurden sie in einen leeren getäfelten Raum geführt, den der Führer als Eßzimmer identifizierte. Die Bezeichnung war bestenfalls ein ehrendes Andenken, denn der Raum wurde offensichtlich schon seit Jahren nicht mehr benutzt. Als nächstes kamen der Anrichteraum und das Lampenzimmer – »wo man die Paraffinlampen gereinigt hat, bevor das Haus neunzehnhundertdreizehn ans Stromnetz angeschlossen wurde.«
»Jetzt sind wir im Pachtzimmer«, fuhr er fort. »Lord Roughton ist mit Recht stolz darauf, daß er die Bauernhäuser, die zu seinem Besitz gehören, nie verkauft hat. Er hat sich alle Mühe gegeben, das ganze Dorf in seinem ursprünglichen Charme zu erhalten. Seine Lordschaft nimmt den vierteljährlich zu entrichtenden Mietzins persönlich in Empfang, und zwar an einem ausschließlich dafür vorgesehenen Tisch … das ist er, da in der Mitte … und dieser Tisch wurde siebzehnhundertachtzig speziell für Easley House angefertigt. Seine Lordschaft hat uns wissen lassen, daß dieses Verfahren nicht nur Porto spart, sondern es den Leuten auch leichter macht, Beschwerden wegen schadhafter Dächer und dergleichen vorzubringen.«
Als sie in die große Halle kamen, war Michael schon ganz lethargisch von dem monotonen Geleier. Um so weniger war er auf die Dimension des Raums gefaßt, die hohen, himmelwärts ragenden Fenster mit Blick auf die Kapelle, das hallende Echo der Schritte auf den blanken Bodendielen.
Und am allerwenigsten war er auf den Anblick von Mona gefaßt.
Die cool und blond auf einer Empore stand und zu ihnen heruntersah.
Ihn erkannte.
Die Stirn runzelte.
Und verschwand.
Er stupste Wilfred an. »Ich hab sie gesehen.«
»Wo?«
»Da oben.« Der Junge folgte seinem Blick. »Auf der kleinen Empore da hinten.«
Mit geradezu unheimlichem Timing lenkte der Führer die Aufmerksamkeit der Gruppe genau auf diese Stelle: »Über uns, meine Damen und Herren, sehen Sie die Überreste der ursprünglichen Musikantengalerie. Dort spielten die Musiker für die vornehmen Herrschaften auf, die sich in der großen Halle eingefunden hatten. Um achtzehnhundertfünfzig wurde die Galerie in einen Schlafraum umgewandelt, und die Stützpfosten aus Eiche wurden mittels einer Stuckverkleidung zu den dorischen Säulen, wie wir sie heute dort sehen.«
»Bist du sicher?« flüsterte Wilfred.
»Mhm.«
»Und was jetzt?«
»Nichts. Wir können hier nicht weg. Noch nicht.«
Der Junge machte ein verschmitztes Gesicht und schaute sich um.
»Ich weiß nicht, an was du grade denkst«, sagte Michael leise, »aber tu’s nicht. «
»Da drüben neben dem Erkerfenster«, quasselte der Führer weiter, »sehen Sie einen sehr seltenen Chippendale-Gymnastikstuhl. Das Wippen auf dieser recht seltsamen Vorrichtung sollte angeblich gut für die Gesundheit sein.« Mit einem dümmlichen Grinsen wandte er
Weitere Kostenlose Bücher