Stadtmutanten (German Edition)
in der linken Hand. Sicher ist sicher. Ben wäre stolz auf mich gewesen. Doch als der Fahrstuhl sich öffnete, erwartete mich nur ein über das ganze Gesicht strahlender Enrico.
»Hey Mann, schön dich zu sehen. Wo sind die Anderen?«
»Ist ´ne lange Geschichte.«
»Hab lange keine Geschichte mehr gehört. Komm rein und ich mach uns ´nen Tee.«
Enricos Wohnung war weit weniger chaotisch eingerichtet, als ich gedacht hatte. Als wir im Wohnzimmer ankamen, sprang uns sofort eine schneeweiße Katze entgegen.
»Ah, ich sehe, deiner Katze geht’s gut.«
»Ja, Mehmet hat sich gut um sie gekümmert.«
»Wer ist Mehmet?«
»Mein Nachbar. Hey Marlene, sag Hallo zu Marek.«
Und tatsächlich schaute Marlene zu mir hoch und gab ein erfreutes Miauen von sich. Ich grinste.
»Hallo Marlene. Das ist ein ungewöhnlicher Name für eine Katze, oder?«
»Ich weiß, aber schau dir ihre Beine an. So schön wie die von der großen Marlene.«
Er deutete auf ein Filmplakat mit Marlene Dietrich. Enrico war schon ein Sonderling. Aber ein sympathischer. Ich ließ mich auf Enricos Sofa fallen und Marlene sprang sofort auf meinen Schoß und verlangte, gekuschelt zu werden. Enrico verschwand in der Küche und kam kurze Zeit später mit einem ostfriesischen Teeservice komplett mit Sahne und Kluntje zurück. Ich war baff.
»Ich wusste gar nicht, dass Kanadier das auch so machen.«
Enrico lachte.
»Tun sie auch nicht. Aber Ben hat mir erzählt, dass du ostfriesische Wurzeln hast und ich dachte, dass dies endlich mal eine Möglichkeit ist, das Zeug hier zu testen.«
»Warum hast du ostfriesisches Teegeschirr? Und sogar das richtige?«
»Ach, hab ich gar nicht erzählt, oder? Meine Mutter kommt aus Tannenhausen.«
»Bei Aurich?«
»Yep.«
»Das ist keine 15 Kilometer von meinem Heimatdorf entfernt.«
»Meine Eltern wohnen sogar da.«
»Cooles Ding.«
Enricos Mutter hatte ihm offensichtlich in die Geheimnisse der ostfriesischen Teezubereitung eingeweiht, denn sein Tee schmeckte absolut authentisch. Ich wettete, es war sogar die gleiche Sorte, die bei uns zuhause getrunken wurde.
»Wovon hast du all die Tage gelebt?«
»Ich habe eine Tiefkühltruhe voller Rindfleisch und Tiefkühlgemüse. Und natürlich Pizza und Eis. Ich hab es mir gut gehen lassen. Jeden Tag Steak. Aber jetzt erzähl mir mal deine Geschichte. Ich bin etwas ausgehungert nach Neuigkeiten. Hier drin passiert nicht so viel.«
Also erzählte ich ihm unsere Geschichte. Dieses Mal ließ ich nichts aus. Ich redete mir alles von der Seele: Die Sache mit der Infektion und dem Kokain, das Abenteuer bei Egor, die Sache mit Hiob, die schwierige Situation mit Lila, wie sehr ich meine Familie vermisste, dass Ben sich in die Totenfrau verknallt hatte und abgehauen war. Ich schloss meinen Vortrag mit dem Eintrag in Leons Adressbuch, dass er sich mit jemandem im 7. Stock des Almatahauses treffen wollte.
»Weißt du, wer das sein könnte?«
Enrico zuckte mit den Schultern.
»Ich bin es nicht, aber lass uns mal Mehmet fragen, der kennt hier so ziemlich jeden. Außerdem wohnt er nebenan.«
Also klingelten wir bei Enricos Nachbarn. Nach wenigen Sekunden öffnete ein junger Mann türkischer Herkunft die Tür. Er wirkte sehr gepflegt, trug neue Markenkleidung, hatte eine adrette Frisur, war frisch rasiert. Er hatte sich einen Bart stehen lassen, der in geschwungenen Linien sein hübsches Gesicht zierte. An einigen Stellen wirkten die Linien etwas unnatürlich und ich hatte den Verdacht, dass einige der Linien mangels dichtem Bartwuchs mit Kajalstift nachgezeichnet waren. Er lächelte breit.
»Hallo Enrico! Schön, dass du mich besuchen kommst. Geht’s Marlene gut?«
»Marlene geht es großartig.«
»Das ist schön. Ich mag sie wirklich gern, weißt du? Und ich sehe, du hast Besuch mitgebracht. Ach, wo sind meine Manieren? Ich bin Mehmet und wie heißt du?«
Er streckte mir die Hand entgegen und ich ergriff sie. Sein Händedruck war so gut wie nicht existent, eher lag seine Hand lose in meiner. Ein Händedruck von der unangenehmen Art: Zu locker und zu lang. Mehmet sah mir dabei tief in die Augen. Ich zwang mich, mir nichts anmerken zu lassen, löste aber von mir aus den Händedruck, da Mehmet offensichtlich nicht vorhatte, meine Hand jemals wieder loszulassen.
»Ich heiße Marek.«
»Hallo Marek«, sang Mehmet. Er deutete an sich vorbei in die Wohnung.
»Tretet ein!«
Enrico und ich wurden in eine stilvoll, aber hoffnungslos verspielt eingerichtete Wohnung geführt.
Weitere Kostenlose Bücher