Starke Frauen
Lieblingsbruder, erzählt ihr »mit Engelsgeduld« immer wieder die Geschichte vom biblischen Josef, dem Träumer, den seine älteren Brüder an Sklavenhändler verkauften. Paul will zum Katholizismus übertreten, stirbt aber, kaum 21-jährig, kurz vor seiner Taufe. Seine Schwester betet stundenlang und weint, wenn man sie unterbricht.
Mit elf erkrankt Else an Veitstanz, einer Nervenerkrankung, die mit unwillkürlichen Zuckungen verbunden ist. Sie wird daheim unterrichtet und nie wieder eine Schule besuchen.
Reime, Träume, Anderssein – Elses Lebensweg scheint vorgegeben.
»Die Leute nennen mich ein’ Luftikus – vielleicht bin ich’s auch – ein bisschen ausgelassen –, aber denn auch nur für mich.« Mit 25 Jahren heiratet sie brav-bürgerlich den Arzt Jonathan Berthold Lasker und zieht nach Berlin, doch die Vernunftehe beginnt sie zu langweilen. Sie nimmt Malstunden. Lasker richtet ihr sogar ein Atelier ein.
Else experimentiert mit Malstilen, sucht Kontakt zu anderen Künstlern und gehört bald zu den Stammgästen im »Café des Westens«, dem Szenetreff der Berliner Bohème. Sie trifft Fantasten, Anthroposophen und Anarchisten, exzentrische Einzelgänger, die mit großem Elan dabei sind, das Althergebrachte abzuschaffen. Hier gilt: Je origineller, umso anerkannter. Else wird schwanger, aber weigert sich, die Identität ihres Geliebten preiszugeben. Der Ehemann stoppt die Unterhaltszahlungen.
Da mittellos, muss die 30-Jährige eine kostenlose »Demonstrationsgeburt« in Kauf nehmen. Sie bekommt Paul vor den Augen gaffender Studenten. Als wollte sie diese entwürdigende Schau ungeschehen machen, beginnt Else, sich neu zu erfinden. Genug der Anpassung.
Der Nervenarzt, Dichter und vorübergehende Geliebte Gottfried Benn erinnert sich: »Man konnte mit ihr weder damals noch später über die Straße gehen, ohne dass alle Welt stillstand und ihr nachsah:extravagante weite Röcke oder Hosen, unmögliche Obergewänder.« Else weiß, dass sie es mit der Garderobe der reichen Frauen nicht aufnehmen kann, also erhöht sie ihre Armut zum Stil.
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»Nichts geschieht wirklicher als in meinem Kopf«
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1902 erscheint Elses erster Gedichtband mit dem programmatischen Titel Styx . Wie die griechische Sage es will, bildet der Fluss Styx die Grenze zwischen der Welt der Lebenden und dem Totenreich Hades.
Die Lyrikerin meldet: Ich werde die Welten wechseln und aus der »toten«, ums Materielle kreisenden aussteigen. Das Bekenner-Gedicht heißt »Weltflucht«: »Ich will in das Grenzenlose / Zu mir zurück, / Schon blüht die Herbstzeitlose / Meiner Seele, / Vielleicht – ist’s schon zu spät zurück! O, ich sterbe unter Euch! / Da Ihr mich erstickt mit Euch. / Fäden möchte ich um mich ziehn – / Wirrwarr endend! / Beirrend, / Euch verwirrend, / Um zu entfliehn / Meinwärts.« Fortschrittliche Kritiker halten Styx für genial, die konservative Presse für geschmacklos. So wird es bei jedem ihrer Werke sein, gleich ob es ein Roman ( Mein Herz von 1912) ist oder ein Theaterstück ( Die Wupper , 1919 uraufgeführt).
Ein halbes Jahr nach der Scheidung von Lasker heiratet Else 1903 den Kunsthistoriker und Komponisten Georg Levin, der unter dem Namen Herwarth Walden bekannt wird. Er ist zehn Jahre jünger, also macht sich Else um sieben Jahre jünger. Das ist eine Anpassung nach ihrer Art! Walden vertont ihre Gedichte, veröffentlicht sie in seiner Zeitschrift Der Sturm und verhilft ihr zu Popularität. Die Dichterin bewundert er, aber die Frau verlässt er 1912 wegen eines Blondchens. Nach ihrer zweiten Scheidung wird Else nie wieder eine eigene Wohnung haben.
Im Vorkriegsjahr 1913 schreibt der Wiener Literaturpapst Karl Kraus: »Nicht oft genug kann diese taubstumme Zeit, die die wahren Originale begrinst, durch einen Hinweis auf Else Lasker-Schüler gereizt werden, die stärkste und unwegsamste lyrische Erscheinung des modernen Deutschlands.« Else geht auf Lesereise, untermalt ihre Worte mit Geräuschen, verwandelt jede Lesung in einen Event. Das ist das breite Publikum nichtgewohnt. »Starr vor Staunen« hört es zu, bis es »lachend und schwatzend da saß – oder verschwand«. Elses Einnahmen bleiben überschaubar. Und das meiste gibt sie aus für ein Internat, in dem ihr Sohn lebt.
Franz Marc organisiert eine Gemäldeversteigerung zu Elses Gunsten.
1913 erscheint sogar ein Spendenaufruf für die »mit schweren Sorgen kämpfende Dichterin«. 4000 Mark kommen zusammen. Auch Franz Kafka stiftet fünf
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