Starke Frauen
Dann stirbt der »Engel«, wie alle sie nannten.
Sie gab Preußen, was Preußen gehörte. Und als der Krieg verloren wurde, war sie es, welche die Würde des Landes bewahrte. Sie allein. Eine einfache Frau, eine Königin – eigentlich – wider Willen.
Mit fünf Jahren erkrankt Rosalia an Knochentuberkulose und muss ein Jahr im Bett bleiben. Sie wird ihr Leben lang hinken. »Damals glaubte ich fest, dass das ›Leben‹, das ›richtige‹ Leben, irgendwo weit weg ist, dort über den Dächern hinweg«, ein Leben, zu dem man fliegen müsste »wie die Vögel«. Seither reist sie ihnen nach. Sie ist ein waches, aber kein hübsches Kind: »Du wirst keine schöne Frau haben, ich fühle mich ziemlich hässlich«, warnt sie später den Mann, der sie »zur Frau macht«. Illusionen waren nie ihr Ding.
In ihrer polnischen Heimatstadt Zamość ist die Behördensprache Russisch (Ostpolen gehört zu Russland). Daheim spricht man Polnisch, aber Rosas Vater, ein jüdischer Holzhändler, bevorzugt die Sprache der Revolutionäre: Französisch. Das Kind beherrscht alle drei, die Mama ist stolz: »Rosa ist klüger als wir alle zusammen.« Kaum hat sie sich Lesen und Schreiben beigebracht, bringt sie es den Hausmädchen bei. Und leiht dem Hausknecht Antoni ihre Bücher. Rosa wollte schon als Kind die Welt verändern.
Auch auf dem Warschauer Mädchengymnasium ist Rosa stets die Beste. Vor allem gehört sie einem illegalen Zirkel junger Polen an, die den Zarismus ebenso bekämpfen wie die Bourgeoisie und bald Anschluss finden an die sozialistische Partei Proletariat, die 1883 als erste der europäischen Arbeiterparteien einen Massenstreik organisiert. Rosa schreibt in das Poesiealbum einer Freundin: »Mein Ideal ist eine solche Gesellschaftsordnung, in der es mir vergönnt sein wird, alle zu lieben. Im Streben danach und im Namen dieses Ideals werde ich vielleicht einmal imstande sein, zu hassen.« Der Geheimpolizei ist die Jung-Rebellin längst aufgefallen, die Genossen raten zur Flucht. Auf einem Bauernwagen, unterm Stroh versteckt, bringt ein katholischer Pfarrer das Fräulein »mosaischer Religion« über die Grenze.
In Zürich (115 000 Einwohner, 30 000 Ausländer, 500 Professoren) lässt sich Rosa an der Uni für Naturwissenschaften immatrikulieren, aber hört auch Philosophie und Mathematik. Das »richtige« Leben jedoch findet im Sozialistenclub statt, dem Sammelpunkt politischer Emigranten. Sie ist ehrgeizig, voller Energie und Spottlust. Kaum 20-jährig, ist Rosa eine überzeugte Marxistin, will handeln, nicht nur die Welt interpretieren. Als Erstes wechselt sie von Natur- zu Staatswissenschaften.
Und in Zürich trifft sie auch den Mann, der für sie »die Sache« verkörpert: Leo Jogiches. Der Litauer ist vor der zaristischen Polizei geflohen, sieht gut aus, ist reich und autoritär. Er bringt ihr bei, wie man Streiks organisiert, Pässe fälscht, Agitationsmaterial verbreitet. Da sie mit ihm schläft, hält Rosa ihre Beziehung für eine Ehe und will ein Baby. Der Angeflehte antwortet, ihre Aufgabe sei es nicht, Kinder zu gebären, sondern politische Ideen. Er ermahnt sie zu Disziplin und Arbeit. Sie antwortet: »Gold, ich könnte doppelt so viel arbeiten – wenn nur du in meinen Armen wärest. Mich hat die Arbeit kein bisschen ermüdet. Aber ich spüre, wie meine Seele welkt ohne dich.« Sie hat Energie und Elan für beides: »die Sache« und Privatleben. Arbeit wird nie Rosas Problem sein. Männer schon eher.
1893 gründet sie mit Leo die Sozialdemokratie des Königreichs Polen (SDKP). 1897 promoviert sie summa cum laude. Ihre Eltern schenken ihr einen Ring mit Vergissmeinnicht aus Perlen und das Fräulein Doktor fragt sich: Und nun? Eine Ehe mit Leo ist längst Illusion. Es drängt sie nach Berlin, wo das Herz der Arbeiterklasse schlägt. Um die preußische Staatsangehörigkeit zu erhalten, geht sie mit 27 eine Scheinehe ein, kommt Mitte Mai 1898 in Berlin an, mietet ein möbliertes Zimmer und wird zehn Tage später SPD-Mitglied.
Die mächtige Sozialdemokratische Partei Deutschlands (250 000 Mitglieder, 70 Zeitungen mit Gesamtauflage über 400 000) ist eine reine Männerpartei: August Bebel ist der Parteiführer, Wilhelm Liebknecht Chefredakteur des Parteiorgans Vorwärts , Karl Kautsky der Parteitheoretiker. Als sich Rosa in der Zentrale meldet, herrscht Wahlkampf. Im Juni sind Reichstagswahlen. Sie will mitmischen, »möchte mich, zum Teufel, ein wenig der Öffentlichkeit zeigen«. Die Partei-Herren schicken sie
Weitere Kostenlose Bücher