Starkes Gift
schließlich Partner in der Firma. Er war mein Vater, und ich habe in der Juristerei seine Nachfolge angetreten.
Die dritte Tochter, Rosanna, war von ganz anderem Holz. Sie war sehr schön, eine überaus gute Sängerin und anmutige Tänzerin und alles in allem ein besonders anziehendes und verwöhntes junges Mädchen. Zum Entsetzen ihrer Eltern lief sie davon und ging zur Bühne. Man tilgte ihren Namen in der Familienbibel. Sie setzte sich in den Kopf, die schlimmsten Befürchtungen ihrer Eltern zu bestätigen, und wurde zum umschwärmten Liebling der Londoner Lebewelt. Unter dem Künstlernamen Cremorna Garden eilte sie von einem anstößigen Triumph zum nächsten. Und sie hatte Köpfchen, wohlgemerkt – keine zweite Nell Gwynne. Sie hielt fest, was sie bekam, und sie nahm alles – Geld, Juwelen, Luxusappartements, Pferde, Kutschen und was es so alles gab, und das machte sie zu Geld und legte es sicher an. Verschwenderisch war sie nie, nur mit ihrer eigenen Person, und das hielt sie für eine ausreichende Gegenleistung für alles, was sie bekam; meines Erachtens war es das auch. Ich habe sie zum erstenmal gesehen, als sie schon eine alte Frau war, aber vor dem Schlaganfall, der Geist und Körper zerstörte, sah man immer noch die Spuren bemerkenswerter Schönheit. Sie war auf ihre Art eine ebenso schlaue wie knauserige alte Frau. Sie hatte diese festen kleinen Hände, schmal und gedrungen, die nichts wieder hergeben – außer gegen Bezahlung. Sie werden den Typ ja kennen.
Nun, kurz gesagt: Jane, die älteste Schwester – die mit dem Schulmeister verheiratet war – wollte mit dem schwarzen Schaf der Familie nichts zu tun haben. Sie und ihr Mann hüllten sich in ihre Tugend und schauderten schon, wenn sie den Schandnamen Cremorna Garden auf den Anzeigetafeln des Olympic- oder Adelphi-Theaters lasen. Ihre Briefe schickten sie ihr ungeöffnet zurück und verbaten ihr das Haus, und zu guter Letzt versuchte Henry Brown sie beim Begräbnis seiner Frau sogar aus der Kirche werfen zu lassen.
Meine Großeltern waren nicht ganz so sittenstreng. Sie besuchten sie zwar nicht und luden sie auch nicht zu sich ein, aber sie kauften sich ab und zu eine Eintrittskarte zu ihren Vorstellungen und schickten ihr eine Anzeige, als ihr Sohn heiratete. Sie hielten Abstand, aber blieben höflich. Folglich hielt sie ihrerseits eine förmliche Verbindung mit meinem Vater aufrecht und übergab ihm schließlich ihre geschäftlichen Angelegenheiten. Besitz war für ihn Besitz, unabhängig von der Art des Erwerbs; er pflegte zu sagen, wenn ein Anwalt mit unsauberem Geld nichts zu tun haben wolle, müsse er der Hälfte seiner Klienten die Tür weisen.
Die alte Dame vergaß und vergab nie etwas. Sie schäumte schon bei der bloßen Erwähnung des Boyes-Zweiges ihrer Familie. Darum fügte sie, als sie ihr Testament machte, diesen Absatz ein, den Sie jetzt vor sich liegen haben. Ich habe sie darauf hingewiesen, daß Philip Boyes mit ihrer Verfemung schließlich nichts zu tun hatte, ebenso wie Arthur Boyes, aber die alte Wunde schmerzte noch, und sie mochte kein Wort zu seinen Gunsten hören. Also habe ich das Testament nach ihren Wünschen aufgesetzt; hätte ich es nämlich nicht getan, wäre sie damit zu einem andern gegangen.«
Wimsey nickte und wandte seine Aufmerksamkeit nun dem Testament zu, das acht Jahre früher datiert war. Norman Urquhart wurde darin zum alleinigen Testamentsvollstrecker ernannt, und nach einigen Legaten an Dienstboten und Wohlfahrtseinrichtungen für Theaterleute ging es folgendermaßen weiter:
»Mein gesamtes übriges Vermögen hinterlasse ich meinem Großneffen Norman Urquhart, Rechtsanwalt zu London, zum lebenslangen Nießbrauch; nach seinem Tode soll es zu gleichen Teilen auf seine legitimen Nachkommen übergehen; sollte besagter Norman Urquhart ohne legitime Nachkommen sterben, geht besagtes Vermögen an (hier folgen die Namen der zuvor schon erwähnten Wohltätigkeitseinrichtungen). Ich treffe diese Verfügung über mein Eigentum zum Zeichen der Dankbarkeit für die Achtung, die besagter Großneffe Norman Urquhart sowie sein Vater, der verstorbene Charles Urquhart, mir ihr Leben lang entgegengebracht haben, und um sicherzustellen, daß kein Teil meines Vermögens in die Hände meines Großneffen Philip Boyes oder seiner Nachkommen gelangt. Zu diesem Zweck und um meine Meinung über die Unmenschlichkeit darzutun, mit der die Familie besagten Philip Boyes’ mich stets behandelt hat, erlege ich besagtem
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