Starters
etwas näher. Er sah mich forschend an, als bitte er um Erlaubnis. Ich nickte schwach und fuhr mir, ohne lange nachzudenken, mit der Zunge über die Unterlippe. Er beugte sich zu mir herunter, doch genau in diesem Moment klopfte Rodney an die Wand.
»Callie? Tut mir leid, aber wir müssen los.«
Michael schloss die Augen und lächelte. Wir dachten beide das Gleiche. Was für ein schlechtes Timing.
»Okay, Rodney. Ich komme gleich.«
Wir hörten, wie er in den Korridor hinaustrat. Tyler erwachte, fuhr sich mit den Händen übers Gesicht und setzte sich auf. Ich berührte seinen Arm.
»Tyler, ich muss jetzt gehen. Hör mir bitte genau zu. Du und Michael, ihr seid von nun an ein Team, okay?«
»Ein Team«, murmelte er mit schläfriger Stimme.
»Ich werde lange fort sein, einen ganzen Monat, aber in Gedanken bin ich immer bei dir. Und wenn ich wiederkomme, lasse ich dich nicht mehr allein. Alles wird besser sein als zuvor. Okay?«
Er nickte so ernst und feierlich, dass mir das Herz wehtat.
»Du bist mein tapferer Junge.« Ich hielt einen Moment lang seine Hand und zog ihn dann an mich.
»Beeil dich«, wisperte er. Ich spürte seinen warmen Atem an meiner Schulter.
Als ich mich von ihm löste, hatte er Tränen in den Augen.
»Stark sein«, sagte ich.
»Sei du schnell zurück«, antwortete er.
Michael brachte mich nach draußen. Rodney ging voraus.
Als wir den Treppenabsatz erreichten, kam gerade ein hochgewachsenes Mädchen die Stufen nach oben. Rodney richtete seine starke Stablampe auf sie, und sie hob eine Hand, um ihre Augen gegen die plötzliche Helligkeit zu schützen.
»Lass das!«, fauchte sie.
»Alles in Ordnung«, sagte Michael. »Eine Mitbewohnerin.«
Rodney senkte die Lampe ein Stück, sodass der Strahl das Mädchen nicht mehr blendete, aber ihren Körper beleuchtete. Ich sah, dass sie eine Handleuchte trug. Sie hatte kurzes dunkles Haar und war mager wie wir alle, besaß aber durchaus beachtliche Kurven.
»Hey, Michael, ich habe dir was mitgebracht.« Sie griff in einen Stoffbeutel und kramte zwei Orangen hervor. »Die sind von einem Ender-Gärtner.«
»Danke.« Michael nahm die geklauten Orangen.
Sie deutete ein Lächeln und einen Knicks an. »Ich muss los. Bis später.«
Michael sah mich unbehaglich an. »Das ist bloß eine Bekannte.«
»Wie heißt sie?«, wollte ich wissen.
»Florina.«
»Hübscher Name.« Ich lächelte.
Ich war erleichtert, dass er nicht ganz allein mit Tyler in dem Gebäude lebte. Rodney, der wohl spürte, dass wir einen Moment lang allein sein wollten, ging bis zum nächsten Treppenabsatz voraus und wartete dort, uns den Rücken zugewandt.
Michael nahm mich in die Arme und hielt mich lange fest. Wir schmiegten uns aneinander, beide mehr Knochen als Fleisch. Aber seine Nähe fühlte sich gut an.
»Du wirst mir fehlen«, wisperte er in mein Haar.
»Du mir auch.« Ich wäre am liebsten ewig auf der Treppe stehen geblieben, aber nach einer Weile löste ich mich von ihm. »Bis in einem Monat.«
Er gab mir ein Stück gefaltetes Papier.
»Was ist das?«
»Lies es später.«
Ich hoffte, dass er mein Abschiedslächeln in Erinnerung behalten würde. »Bleib brav!«
»Pass gut auf dich auf.«
Auf der Rückfahrt ließ mich Rodney mit meinen Gedanken allein. Der Wagen wiegte mich wie ein Baby, während die nächtliche Stadt am Fenster vorbeirauschte. Zwischen den mit Brettern vernagelten Gebäuden ging das Leben weiter. Grob gezimmerte Verkaufskarren und Rauch, der von Öltonnen aufstieg, gaben der Gegend den Anschein absoluter Armut. Mir ging durch den Kopf, wie schwer die letzten drei Jahre für Tyler und mich gewesen waren.
Einen Moment lang blendete mich von der Straße her der Strahl einer Stablampe, genau wie damals, als die Marshals gekommen waren, um uns ins Heim zu bringen …
»Hol rasch deinen Rucksack«, wisperte ich Tyler zu.
Wir hasteten im Dunkel zur Küche, während die Polizisten mit den Fäusten an die Vordertür schlugen. Tyler griff nach seinem Rucksack und der Wasserflasche. In meinem Marschgepäck befand sich die Pistole.
Wir rannten in die Nacht hinaus, bevor die Marshals die Hintertür erreichten.
Ich half Tyler, unter Zäunen durchzukriechen und durch verlassene Hinterhöfe zu laufen. Ich war dankbar, dass Dad uns einen Fluchtplan gezeichnet hatte, lange bevor er sich in Quarantäne begeben musste. Tyler und ich blieben in unserem Haus, so lange wir konnten, wie die meisten Kinder ohne Angehörige. Wir kamen gut zurecht, aber wir
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