Staustufe (German Edition)
vielleicht im Bad zu ihr, damit sie die Tür nicht abschloss. Als das Mädchen wehrlos in der Badewanne lag, schlug die Serdaris unvermutet mit einem stumpfen Gegenstand zu. Der Gegenstand liegt wahrscheinlich heute auf dem Grund des Mains. Weil das Opfer nach dem Angriff noch atmete, holte die Täterin ein scharfes Küchenmesser und hieb es ihr immer wieder in den Bauch. Das Blut ließ sie mit viel Wasser in der Badewanne ablaufen. Am Ende packte sie die Tote in einen großen Müllsack. Das Mädchen war ja eher klein und wog nicht viel. Danach wusch die Serdaris noch einmal alles ab. Aber sie schaffte oder wagte es nicht, die Leiche bei Tageslicht zu beseitigen.
Als Nino Benedetti am Freitagnachmittag nach Hause kam, fand er seine Frau in hysterischem Zustand vor. Die Leiche lag noch im Bad, doch wahrscheinlich verpackt. Deshalb wusste Benedetti keine Details über die Todesart, sondern nahm einfach aufgrund der wirren Erzählung seiner Frau an, sie habe sie in der Wanne ertränkt. Er beschloss, bei der Vertuschung des Verbrechens zu helfen. In der folgenden Nacht ließen sich die beiden spät in einem Lokal sehen, um sich ein Alibi zu verschaffen. Gegen zwei Uhr nachts trugen sie die Leiche zum Main, entpackten sie auf der Brücke und warfen sie von der Staustufe ins Wasser.»
Winter schwieg beeindruckt. Natürlich! Alles passte ins Raster. Er fragte sich, warum ihm dieser Ablauf nicht gleich in den Sinn gekommen war. Nun fügte sich sogar das Detail ein, das ihn am Anfang an der Auffindesituation so irritiert hatte: nämlich die Tatsache, dass man das Mädchen auf der falschen Seite der Staustufe hatte ins Wasser fallen lassen. Dort, wo die Leiche nicht mainabwärts forttreiben konnte, sondern an der Staustufe hängen bleiben musste. Das ergab nur dann Sinn, wenn die Täter unterhalb der Staustufe wohnten. Wurde das Mädchen oberhalb angetrieben, würden die Ermittler die Täter mainaufwärts suchen, so wohl das Kalkül. Winter selbst hatte ja auch zunächst angenommen, dass Mädchen wäre flussaufwärts in der Stadt zu Tode gekommen. Nur die Tatsache, dass auf der Brücke kleinste Blutspuren gefunden worden waren, hatte die von den Tätern beabsichtigte Irreführung vereitelt und die Ermittlungen von Anfang an auf die Griesheimer Maingegend konzentriert.
Hätte er sich nicht so durch die Reibereien mit der Aksoy ablenken lassen, ihm wäre das aufgefallen: Nur Verdächtige mit Wohnsitz unterhalb der Staustufe würden so handeln. Das passte nicht auf Naumann, dessen Boot oberhalb lag und der die Leiche ganz gewiss auf die andere, ihm abgewandte Seite der Stauwehre hätte fallen lassen. Aber es passte auf Benedetti/Serdaris. Die Haeussermannstraße lag am westlichsten Ende Griesheims, etwa hundert Meter unterhalb der Staustufe.
Und natürlich hatte die Tat dort in der Wohnung stattgefunden. Winter fragte sich, warum er etwas nicht erkannt hatte, das die ganze Zeit so glasklar vor ihm lag. Die Serdaris hatte ja bei ihrer Geschichte nicht einmal gelogen. Sie hatte nur etwas ausgelassen. Sogar die Episode, wonach sie Benedetti am Freitagnachmittag panisch über die Schwiegermutter herbeigerufen hatte, dieser dann mit einem Taxi eingetroffen war und die Serdaris hysterisch weinend im Bett vorgefunden hatte – all das hatte wohl gestimmt. Nur die Leiche, die zu diesem Zeitpunkt in der Badewanne lag, die hatte sie nicht erwähnt.
Die glaubwürdigsten Lügen waren eben immer die, die viel echte Erinnerungen enthielten. Darin lag die Stärke von Serdaris’ Geschichte: Praktisch alles, was sie erzählt hatte, war wahr. Die Wahrhaftigkeit spürte man und verfiel dann in den Fehler, ihr in jeder Hinsicht zu vertrauen. Oder vielmehr: Unerfahrene Beamte wie die Aksoy verfielen in diesen Fehler. Zumal die Aksoy sowieso bei Frauen ihren blinden Fleck hatte.
Aksoy sah jetzt allerdings reichlich zerknirscht und erschrocken aus.
«Herr Nötzel, Sie sprechen mir aus der Seele», sagte Winter. «Darf ich Sie so verstehen, dass Sie die Serdaris verhaften lassen werden? Sie wissen ja, wäre es nach mir gegangen, hätten wir sie nie entlassen.»
«Ja, aber nicht sofort. Fluchtgefahr besteht ja nicht. Ich plane derzeit, sie Montag zu einem Gespräch zur Staatsanwaltschaft zu holen. Wenn ich sie dann damit konfrontiere, dass wir im Prinzip alles wissen …»
In Nötzels Sakko klingelte ein Handy.
Nötzel prüfte die Nummer des Anrufers. «Benedettis Anwalt», erläuterte er und ging dran.
Hasso Manteufel am anderen Ende
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