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Staustufe (German Edition)

Staustufe (German Edition)

Titel: Staustufe (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alex Reichenbach
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andererseits – wenn sie alles erzählte, dann belastete sie sich ja selbst. Sie hatte doch all die Jahre mitgemacht. Also keine Polizei. Sie würde zur Bahnhofsmission gehen und sagen, sie habe Angst vor ihrem Mann und sie glaube, sie sei verrückt. Dann hätten andere die Verantwortung. Und sie würde ihr Leben lang keine mehr tragen müssen.
    Oben knallte eine Tür. Dann noch eine. Immer wieder hallte es von ferne: «Sabine!»
    Sabine fröstelte ohnehin schon mit ihrer nassen Bluse im kalten Keller. Nun begannen ihr vor Angst auch noch die Zähne zu klappern. Als es oben wieder still wurde, beruhigte sie sich ein kleines bisschen und plante ihre Flucht. Es konnte doch nicht so schwer sein, von hier zu verschwinden. Einfach nachts, wenn Bert schlief, ganz normal aus der Haustür. – Aber wenn Bert ihr oben im Flur auflauerte? Es war zwar unwahrscheinlich. Er wusste doch nicht, dass sie noch im Haus war. Aber vielleicht war es doch sicherer, wenn sie direkt von hier durchs Kellerfenster auf den Hof kroch. Das Schlafzimmer ging ja zum Glück auf die Mainseite. Bert würde nicht hören, was sich auf der Straßenseite abspielte.
    Sabines Blick fiel auf das Kellerfenster. Die Bretter, mit denen es teils verdeckt war, schienen nicht vernagelt zu sein, bloß locker in den Fensterrahmen gestellt. Wegen der Bretter sah man vom Fenster selbst praktisch nichts. Doch sie kannte es von außen, es war genau wie die anderen Kellerfenster im Haus mit einem Gitter statt einer Scheibe versehen. Diese Gitter ließen sich von innen mit einem Hebel öffnen. Sabine war klein und schlank. Sie glaubte eigentlich schon, dass sie hindurchpasste. Direkt vor dem Fenster stand ein alter Polstersessel. Auf den konnte sie klettern und sich beim Hinauskriechen abstützen.
    Sabine schlang die Arme um ihren Körper. Ihr war wirklich schrecklich kalt. Bis es Nacht wurde, dauerte es noch viele Stunden, die sie hier in der Kälte zubringen musste. Auf dem Sessel unter dem Fenster schien eine verstaubte alte Decke zu liegen, an einer Stelle fiel zwischen den Brettern hindurch ein dünner Lichtstrahl darauf. Hier würde sie sich hinsetzen und zudecken. Auf bloßen Strümpfen, die Schuhe in der Hand, schlich Sabine Richtung Fenster. Es knackte und knisterte leise bei jedem ihrer Schritte. Sie fragte sich, was all das Knisterzeugs war, das sie durch ihre Nylonstrümpfe spürte. Dann stolperte sie über einen weiteren halbleeren, verstaubten alten Müllsack, fing sich aber geschickt beim Fallen, mit nur einem leichten Schmerz im Handgelenk. Sie hob die Handfläche. Hauchdünne kleine Plättchen klebten daran. Es war so dunkel, dass sie bloß ahnte, es könnten Überreste von Insekten sein. Ihr Knie schmerzte ebenfalls, es war gegen etwas Hartes gestoßen. Sabine griff danach, fühlte unterm Plastik des Müllbeutels etwas wie einen Stock, nur härter. Sie tastete weiter. Am Ende hatte der Knüttel dicke runde Ausbuchtungen. Sie tastete in der Umgebung. Noch mehr Stöcke, kleinere, dünnere, zerbrochene. Sabine tastete so lange, bis sie etwas zwischen den Fingern hatte, das sie nicht mehr als Stock abtun konnte. Es war das Unterteil eines menschlichen Gebisses.
    Sie begann am ganzen Körper zu schlottern.

    Winter hatte gut geschlafen. Am Morgen war er raus, um Brötchen und Zeitung zu kaufen, später noch mit dem Auto zur Berger Straße, wo er in der örtlichen Buchhandlung das neue Werk des Herrn Guido Naumann erstand, aus reiner Neugier. Den Rest des Vormittags hatte er lesend verbracht. Zu seinem großen Erstaunen stellte er fest, dass ihm das Buch gefiel, obwohl es ziemlich abgehoben war oder gerade deshalb. Die Hauptfigur war ein Mann in mittleren Jahren. Winter konnte nicht umhin, sich in vielem wiederzuerkennen. Außerdem: Einen Roman zu lesen, sich aufs langsame Tempo einzulassen war ungemein entspannend. Eigentlich hatte er seit seiner Kindheit und Jugend keine Bücher mehr gelesen. Er musste es sich wieder angewöhnen.
    Die einzigen echten Familienmahlzeiten waren in den letzten Jahren die Mittagessen am Wochenende. Carola hatte diesmal selbstgemachte Spaghetti bolognese gezaubert. Es schmeckte köstlich. Winter war erleichtert zu sehen, dass auch Sara ganz normal am Essen teilnahm. Gestern war sie laut Carolas Aussage direkt nach der Schule nach Hause gekommen, zum ersten Mal seit längerem. Für Winter hieß das: Sie hatte ihre Lektion gelernt. Das entsetzliche Erlebnis mit Lenny Petzke hatte sie auf den rechten Weg zurückgebracht.
    Winter

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