Staustufe (German Edition)
verschiedenen Gründen mulmig. «Kommen Sie, Frau Aksoy», flüsterte er. «Wir müssen jetzt vor allem eins, unsere Verhaftung machen. Wenn Sie sich alle paar Stunden auf einen neuen Hauptverdächtigen einschießen, werden wir nie mit den Ermittlungen fertig.»
Das Ritual war wunderschön gewesen. Jetzt lehnten sie alle über der Betonbrüstung der Aussichtsplattform, sahen im fahlen Lichtschein die Blumen als reflektierende Tupfer auf dem Wasser treiben. Sara hatte sie besorgt. Schwarze und lila Tulpen. Reiner Zufall, dass der Blumenladen diese exotische Kombi in einem Eimer stehen hatte. Sara hatte sofort gesehen, dass es die richtigen waren. Es war auch ihre Idee gewesen, das Mädchen hier zu verabschieden. Sie war insgeheim stolz darauf. Sie merkte, dass sie jetzt noch mehr akzeptiert wurde. Sie war jetzt wirklich Teil der Gruppe. Obwohl die anderen älter waren und nicht von ihrer Schule.
Saras Handy piepste leise. Über die Brüstung gelehnt, sah sie nach: Eine SMS von Selim.
Der Steg zu Naumanns Boot war mit einer Metalltür geschützt. Eine Zackenreihe darauf sollte Kletterer abhalten. Winter kam ohne große Probleme darüber, aber die Aksoy mit ihren weit kürzeren Beinen hatte ein Problem. Winter musste ihr unter die Arme greifen, eine delikate Situation.
Auf dem schmalen Steg wurde Winter klar, dass noch etwas anderes delikat war. Ein gutgesetzter Stoß, und man lag im Wasser. Da der Steg so schmal war, konnte jeweils nur einer von ihnen Naumann gegenübertreten. Er dachte an mittelalterliche Burgen, die sich mit einem Wassergraben nach ähnlichem Prinzip schützten. Nur war ein Schriftsteller zum Glück keine Ritterhorde.
Das Hausboot lag mit der Tür am Steg. Eine Klingel gab es nicht. Aksoy machte Winter Zeichen, sie wolle an ihm vorbei. Verdutzt ließ er sie auf den Rand des Bootes klettern, wo sie neben der Tür stehen blieb und ihre Waffe zog. Sie wollte ihn von der Seite sichern. Die Leute von der Streife hatten sich inzwischen am Ufer postiert.
«Dass Sie mir nicht ohne Not zu schießen anfangen», flüsterte Winter Aksoy zu. Dank einer unguten Erfahrung vor fünfzehn Jahren wurde er nervös, wenn er einen Kollegen an der Tür eines Verdächtigen die Waffe ziehen sah. «Wenn überhaupt, nur auf die Beine zielen. Aber ich denke doch, dass wir das ohne Waffengebrauch hinkriegen.»
«Ay, ay, Käpt’n», murmelte Aksoy.
Die hatte Nerven! Wenn sie ihn nur nicht wieder reinritt.
Gut, es ging los. Winter hämmerte gegen die Tür und rief: «Herr Naumann! Herr Naumann!»
Es dauert gar nicht lange, und Guido Naumann öffnete. Winter hatte zuvor nicht nach Fotos von ihm gegoogelt. Doch als er vor ihm stand, wusste er, dass er den Mann in den Medien schon gesehen hatte. Oder es kam ihm nur so vor, denn Guido Naumann war äußerlich der klassische Typ des intellektuellen Schriftstellers: sehr schlank, das Gesicht leicht arrogant und feingeschnitten-nobel, mit einem künstlerisch weichen Zug um den nun alternden Mund. Die noch vollen Haare waren etwas länger als bei Männern üblich, grau meliert mit hohem Weißanteil. Die Augen lagen hinter einer dünnrandigen Metallbrille und blickten Winter mit einer gewissen Verachtung an. Oder auch das kam ihm nur so vor.
«Was soll das?», fragte Naumann
«Winter, Kriminalpolizei. Herr Naumann, ich habe hier leider einen Haftbefehl gegen Sie. Es geht um die Tötung eines jungen Mädchens. Wahrscheinlich werden wir Sie nach einer Vernehmung wieder freilassen. Aber Sie müssen uns jetzt erst einmal aufs Präsidium begleiten.»
Naumann sah ihn einen langen Moment reglos an. Dann murmelte er: «Die unermessliche Phantasielosigkeit des Kleingeists.» Lauter fragte er dann, ob er wohl noch seine Jacke, Ausweis und dergleichen holen dürfe. Die ganze Zeit stand er in der derselben lässigen Haltung in der Tür.
Der ist nicht mal überrascht, dachte Winter und antwortete: «Sicher. Aber ich muss Sie dann nach drinnen begleiten.»
Naumann zuckte mit den Schultern und ging vor. Winter spürte das Blut in den Adern kursieren. Die Verhaftung eines Verdächtigen, das Gefühl, einen potenziellen Täter zu fassen – das waren die Momente, in denen man sich unglaublich lebendig fühlte, wo man diesen Job mit keinem anderen auf der Welt tauschen wollte. Winter folgte Naumann in den großen Raum mit Panoramafenstern im Heck oder Bug des Bootes, der offenbar als Arbeitszimmer und Wohnzimmer zugleich diente. Seine adrenalingeschärften Sinne nahmen auf, dass man vom
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