Steels Duell: Historischer Roman (German Edition)
angestrengt, welche Folgen diese Intrige haben würde. Den Rest der Nacht fand er keinen Schlaf.
6.
Die Befestigungsanlagen von Ostende zählten gewiss nicht zu Marshal Vaubans Meisterleistungen, aber sie erfüllten ihren Zweck. Vor nunmehr acht Jahren war der berühmte französische Festungsbaumeister mit seinen Steinmetzen zum Hafen der Stadt gekommen; unzählige Sträflinge waren zum Arbeitseinsatz gezwungen worden. Vauban hatte die bereits existierenden Verteidigungsanlagen weiter ausbauen lassen. Von 1601 bis 1604 hatte die Stadt schon einmal einer Belagerung standgehalten, als die Niederländer in einem der berüchtigtsten und grausamsten Zusammenstöße des blutigen Achtzigjährigen Krieges die spanischen Truppen des Erzherzogs Albert VII. von Österreich abgewehrt hatten.
Steel stand an der Böschung westlich des Hafens, ließ den Blick über das flache Land schweifen und hoffte, dass das Unterfangen nicht so viel Zeit in Anspruch nehmen würde. In einer eigens verfassten Abhandlung hatte Vauban geschätzt, eine erfolgreiche Belagerung dauere mindestens achtundvierzig Tage, angefangen beim ersten Graben bis zur Kapitulation der Bastion. Vielleicht schafften es die Alliierten in dieser Zeitspanne, die Befestigungsanlagen zu überwinden.
Ein klarer blauer Himmel spannte sich über Ostende. Von der Kanalküste blies der Wind landeinwärts, wühlte Gischtkronen in der blaugrünen See auf und drückte den Sand in das Dünengras. Der Wind kam aus England. In diesem Moment des Nachsinnens machte Steel sich bewusst, dass er zuletzt vor vier Jahren auf britischem Boden gestanden hatte. Und nun fragte er sich, ob er seine Heimat je wiedersehen würde. Vor einer Woche waren sie bis nach Ostende marschiert und hatten das Meer schon gerochen, ehe sie es sahen; sie hatten die Dünen erklommen, auf die See geblickt und den Wind gespürt, der ihnen Haarsträhnen ins Gesicht wehte. In der frischen, reinen Luft schmeckten sie das Salz auf ihren Lippen.
Draußen im Ärmelkanal konnte Steel nach wie vor die Masten von über einem Dutzend Schiffen ausmachen. Eine britische Flotte unter Admiral Fairborne, dahinter weitere Schiffe mit Geschützen, die den Hafen unter Beschuss nehmen sollten. Erst nach der Bombardierung würden die Grenadiere in die Stadt vorrücken, wenn alles nach Plan lief und die Stadt nur noch ein schwelender, von Leichen übersäter Aschehaufen war – und die britische Navy wieder einmal ihren Ruf ruinierte, weil sie Zivilisten massakrierte. Steel blinzelte gegen das Sonnenlicht und betrachtete weiterhin die Verteidigungsanlagen, die erst noch erobert werden mussten.
Ostende war speziell als befestigter Flottenstützpunkt entworfen worden und sicherte mit seinen Mauern den wertvollen Hafen an der breiten Mündung. Die Festung auf der Seeseite unterschied sich in vieler Hinsicht von Vaubans im Inland konzipierten Befestigungsanlagen, die Marlborough im Verlauf der Feldzüge in Flandern so viel Kraft gekostet hatten.
Ostendes Befestigungen besaßen zwei Schwerpunkte: Rechts von Steel lag eine sternförmig angelegte Bastion, das Fort von Saint Philip mit seinen Erdwällen und den dahinter aufragenden Steinmauern. Von den Palisaden aus hatten die Verteidiger freien Blick und konnten die Angreifer unter Beschuss nehmen. Steel wusste, dass die Bastion zu dem Zweck errichtet worden war, die Flussmündung gegen eine Invasion von See zu schützen. Ein Dutzend Geschütze lugten zwischen den Mauerzinnen hinaus aufs Meer. Steel war ebenfalls bekannt, dass die Alliierten es nicht vornehmlich auf die kleine sternförmige Bastion abgesehen hatten, auch wenn die Flanke während des Angriffs dem Geschützfeuer ausgesetzt wäre. Nein, Ziel der Attacke war die Stadt selbst, die linker Hand von Steel hinter einer massiven Steinmauer lag; eine grasbewachsene Böschung verlief bis zu dieser Mauer. Allein von dieser Seite konnte Steel die großen, fünfeckigen Türme der fünf Bastionen sehen, die ihre Feuerkraft vereinigen konnten.
Zwischen Steel und der Stadt erstreckte sich ein breiter Gürtel Marschland, das Marais St. Michel, durch das laut Aussagen von Ortskundigen kein fester Weg führte. Abgesehen von der Seeseite oder dem Fluss erreichte man Ostende nur über eine einzelne schmale Straße, die dem Verlauf der Küste folgte, unmittelbar hinter den Dünen des breiten Sandstrandes. Diese Straße führte zu einem befestigten Stadttor, das sich von einer der Bastionen verteidigen ließ. Steels Blick haftete inzwischen
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