Steels Duell: Historischer Roman (German Edition)
auf ebendiesem Tor. Seit ihrer Ankunft vor einer Woche hatte es sich nicht geöffnet, und es würde sich wahrscheinlich erst wieder öffnen, wenn sie die Stadt eingenommen oder die Belagerung abgebrochen hatten. Auf dem Landweg gelangte man nur durch das Tor in die Stadt, war dann jedoch den Blicken und Musketenläufen der Verteidiger ausgesetzt.
Steel wendete den Blick vom Tor und schaute hinauf zu den Schießscharten, in denen die drohenden schwarzen Mündungen der Kanonen zu sehen waren. Mit Schrecken malte er sich das Blutbad aus, das diese Geschütze anrichten würden, sobald eine Einheit Infanterie versuchte, sich über die Straße der Stadt zu nähern oder die Mauern zu erstürmen.
»Hübsches Städtchen, findest du nicht, Jack?«
Erst jetzt bemerkte Steel seinen Freund Hansam an seiner Seite. »Hm? Oh ja, sehr hübsch, Henry. Marshal Vaubans Erfindungsreichtum verblüfft mich immer wieder aufs Neue. Ein brillanter Mann.«
»Brillant vielleicht, aber es heißt, er sei am französischen Hof in Ungnade gefallen. Lebt quasi im Exil.«
»Da haben die Franzosen einen genialen Kopf und missachten ihn«, spöttelte Steel. »Dieser Mann hat mehr für das französische Militär getan als König Ludwig mit all seinen Prahlereien. Schau, Henry. Siehst du, wie es Vauban mit einem einfachen geometrischen Entwurf gelungen ist, dass stets mindestens acht Geschütze auf eine Stelle zielen? Manchmal können sogar vierzehn Kanonen ihre Feuerkraft vereinen und dafür sorgen, dass kein Abschnitt der Mauern vernachlässigt wird. Vauban schafft Bereiche, in die kein Mann vorzudringen vermag.« Er deutete rechts neben die Stadt. »Schau doch. Was siehst du dort?«
»Eine dreigliedrige Verteidigungsanlage. Infanteristen sichern den äußeren Mauerring auf der Böschung. Weitere Musketen ragen aus den Schießscharten des Tenaillesystems, unterstützt von den Kanonen bei der Brustwehr.«
»Genau. Und erkennst du auch, dass es immer drei voneinander unabhängige Schusswinkel gibt? Dieser Mann ist ein Genie, Henry.«
»Dann sind also wir gefragt, seinen Wunderbauten ein Ende zu setzen. Denn wir müssen diese Festung einnehmen.«
Steel nahm die Bastion weiterhin in Augenschein und malte sich erneut das Blutvergießen, den Qualm der Geschütze und die Schreie der Soldaten aus. Hinter der Brustwehr überragten zwei Gebäude mit steil abfallenden Dächern alle anderen Bauten: Die Pulvermagazine, gut gefüllt mit Schießpulver und Kugeln, um Marlborough auf unbestimmte Zeit von der Stadt fernzuhalten. Anderswo in Ostende wurde bestimmt auch Pulver und Munition verwahrt. Steel hatte bereits einige eroberte Festungen gesehen und wusste daher, dass es innerhalb der Mauern Tunnel und geheime Gänge gab, durch die Soldaten sicher vor feindlichem Feuer von einem Abschnitt zum anderen kamen. Die meisten Bastionen dieser Größenordnung verfügten zudem über eigene Brunnen, die vom Feind nicht vergiftet werden konnten. Pulvermagazine – das wusste Steel aus Erfahrung – wiesen ausgeklügelte Belüftungssysteme auf, sodass die Luft stets zirkulierte, aber jeder Funkenflug von außen unterbunden wurde. Fünf Fuß war das Mauerwerk der modernen Bastionen dick, und an jeder Ecke befand sich ein schlanker Wachturm mit Schießscharten, hinter denen Scharfschützen das Feuer auf die Offiziere der Angreifer eröffneten.
Steel blickte Hansam nicht an, als er sagte: »Ja, das wird eine Herausforderung, Henry. Selbst mit Unterstützung unserer Verbündeten von See aus. Ich frage mich, ob der Herzog noch ein Ass im Ärmel hat.«
»Das will ich doch hoffen! Denn ich kann mir nicht vorstellen, dass wir Ostende auf herkömmliche Weise einnehmen können. Seit sieben Tagen graben unsere Ingenieure nun schon, und schau, was wir erreicht haben.«
Hansam deutete voraus, auf einen langen Graben am Rande der Marsch, der sich von den Dünen weiter links bis zu der kleinen Siedlung Steene weiter rechts schlängelte; daher hatten die Ingenieure den Erdaushub »Steene-Graben« getauft. Normalerweise zogen sich in diesem Stadium einer Belagerung andere Gräben in Richtung der belagerten Stadt, parallel zum Hauptgraben. In speziellen Ausbuchtungen der Grabensysteme positionierten die Alliierten dann ihre Geschütze und nahmen die Stadt unter Beschuss. Doch hier erwiesen sich solche Vorhaben als aussichtslos, da der Untergrund zu nass war. Marshal Vauban hatte sein Geschick erneut unter Beweis gestellt, aber Ostende verfügte ohnehin über natürliche
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