Steels Entscheidung: Historischer Roman (German Edition)
Reiterstandbild, das König Heinrich IV. darstellte, umgeben von hohen Eisenzäunen. Um das Standbild herum hatten Händler ihre Verkaufsstände aufgeschlagen. Steel gab dem Jungen zu verstehen, einen Augenblick zu warten, trat an die Brüstung und schaute in Richtung Westen. Von hier war es leicht, die Ausläufer der Stadt auf sich wirken zu lassen. Der Fluss mit seinen zahllosen Lastkähnen und Barkassen teilte Paris in zwei Hälften.
Als Steel sich umdrehte, blickte er erneut auf die eindrucksvolle Kathedrale, die umgeben war von den Straßen und Gassen der mittelalterlichen Stadt. Die ehemaligen Wehrbefestigungen und Stadtmauern waren breiten Boulevards gewichen. Nirgends konnte Steel eine Stelle entdecken, die der Verteidigung hätte dienen können. Erneut musste er daran denken, dass Marlborough die Stadt vermutlich im Handstreich oder gar kampflos erobert hätte, wären die anderen Befehlshaber seinem Plan gefolgt.
Und weiter ging es. Irgendwann fuhr eine Kutsche dicht an Steel vorbei und bespritzte ihn mit schlammigem Wasser; fast hätte sie ihn gerammt. Vom Trittbrett aus rief ein Bediensteter Steel etwas Unverständliches zu. Dummerweise, aber instinktiv, fluchte Steel laut auf Englisch und hoffte, dass seine Worte in dem allgemeinen Lärm untergegangen waren. Der Junge jedoch schaute neugierig zu ihm auf, und sein kleiner Fehltritt rief Steel erneut in Erinnerung, wie gefährlich seine Mission war.
Steel zwängte sich an den fahrenden Händlern vorbei, von denen einer ihm einen lebendigen Vogel in einem Käfig verkaufen wollte. Steel setzte ein Lächeln auf und ging kopfschüttelnd weiter, bis sie das andere Ufer erreicht hatten.
Dort angekommen, blieb der Junge stehen und zeigte in eine Richtung. Steel folgte dem Blick des Jungen und sah eine große goldene Kuppel, deren Spitze den blauen Himmel zu berühren schien und die aus der Ferne leuchtete. Steel wunderte sich, dass er dieses Bauwerk nicht schon eher entdeckt hatte, da es ganz Paris zu überragen schien. Zuerst hielt er den Anblick für unwirklich, ganz so, als habe eine unsichtbare Kraft das Gebäude dort platziert. Ein Palast wie für die Götter geschaffen. In gewisser Hinsicht war dem auch so. Ein Gebäude wie das Hôpital des Invalides hatte er noch nie gesehen. Es kam ihm noch größer vor als Wrens herrliche, neu errichtete St. Paul’s Cathedral in der City of London. Auch St. Paul’s hatte ein Kuppel, doch das Gebäude, das er nun in der Ferne sah, schien alle modernen Bauwerke der Menschheit als Größe und Pracht zu übertreffen.
Eine Zeit lang konnte Steel die Augen nicht von dem Anblick der leuchtenden Kuppel losreißen. Während er dastand und auf das Bauwerk schaute, wurde ihm noch einmal die Bedeutung seiner Mission bewusst. Der Kuppelbau dort drüben war sein Zielort, so bedrohlich und uneinnehmbar wie viele Festungen der letzten zehn Jahre. Er war auf dem Weg in das Nervenzentrum der militärischen Größe Frankreichs. Denn das Hôpital des Invalides war nicht nur ein Hospital für die Verwundeten, sondern in Wirklichkeit die Machtbasis der Generäle und Marschälle. Während Versailles Sitz des Königs und dessen Kommandostab war, wurden im Invalidendom die strategischen Entscheidungen getroffen. Dort begegnete man den ranghöchsten Offizieren.
Da Steel den Blick immer noch nicht von der Kuppel nehmen konnte, entging ihm, dass Leute an ihm vorbeidrängten, Händler ihn ansprachen und Kinder sich bettelnd um ihn scharten. Als der Junge ihn schließlich am Ärmel zupfte, erschrak Steel und kehrte abrupt in die Wirklichkeit zurück, wusste er doch, dass es Zeit war, den Weg fortzusetzen.
Sie gingen nun schneller, da Steel es kaum noch abwarten konnte, seinen Bestimmungsort zu erreichen. Er hatte keine Zeit mehr, sich die Stadt weiter anzuschauen, und strebte nun in südwestlicher Richtung der goldenen Kuppel entgegen. Beinahe ungeduldig bahnte er sich seinen Weg zwischen den Arbeitern in einem neuen Stadtviertel hindurch, ohne sein Ziel aus den Augen zu lassen. Als sie die neu eröffnete Rue de Varenne erreichten, sah er die Kuppel hoch vor sich aufragen – nicht nur den Invalidendom, auch den großen Palast aus weißem Stein, der das Hospital umschloss. Weitläufige Gartenanlagen umgaben die Gebäudeansammlung.
Steel blieb stehen und ließ die Ausmaße der Bauwerke auf sich wirken. Er hatte das Gefühl, auf das große Landhaus eines Riesen zu blicken – wie auf eine Kreation des bedeutenden Architekten Nicholas
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