Steh zu dir
hegte und ihn eher wie einen Bruder liebte. Ihre Gefühle für Matthieu sahen ganz anders aus. Die Erinnerungen an ihn waren unangenehm, sie weckten Freude, aber auch Schmerz. Vor allem Schmerz.
»Es wird dir alles wieder einfallen. Du musst Geduld haben. Vielleicht gelangst du dadurch zu Einsichten, die du sonst nie erhalten hättest.«
»Vielleicht.«
Die Ärzte hatten ihr Mut gemacht, jedoch nichts versprochen. Es ging ihr besser, und sie zeigte große Fortschritte, aber manchmal trat sie auf der Stelle. Es gab Worte, Orte, Ereignisse und Menschen, die völlig aus ihrem Kopf verschwunden waren. Sie war auf andere angewiesen, um ihrem Gedächtnis auf die Sprünge zu helfen – so wie Matthieu es getan hatte. Und in dem Fall war es schwer zu sagen, ob es ein Segen war oder nicht. Was er ihr bisher erzählt hatte, weckte eine tiefe Trauer über all das, was sie verloren hatte – sogar ein Kind.
»Falls meine Erinnerung nicht zurückkehrt«, erklärte sie ganz pragmatisch, »kommen bei der Schauspielerei harte Zeiten auf mich zu. Kann sein, dass alles vorbei ist. Eine Schauspielerin, die sich nicht an ihren Text erinnern kann, wird wohl kaum viele Rollen bekommen«, sagte sie und lachte. Dafür, dass sie so viel erlitten hatte, war sie ganz schön beherrscht. Ihre Ärzte und die Familie hatten befürchtet, dass sie in Depressionen fallen könnte. Aber Carole gab die Hoffnung nicht auf. Und Matthieu auch nicht.
»Ich habe dir früher gern beim Drehen zugesehen. Nach Marie Antoinette hast du in England gefilmt. Ich weiß nicht mehr, wie der Film hieß. Steven Archer hat mitgespielt und Sir Harland Chadwick.« Er grübelte, aber da platzte Carole schon heraus: »Die Offenbarung! Du liebe Güte, das war vielleicht ein schrecklicher Film!« Sie grinste und hielt dann erstaunt inne. »Wow, wo kam das denn jetzt her?«
»Es ist alles irgendwo in dir«, antwortete Matthieu mit sanfter Stimme. »Du wirst es finden. Du musst nur danach suchen.«
»Ich fürchte mich vor dem, was ich finden werde«, gestand sie ehrlich. »Vielleicht ist es so leichter. Ich erinnere mich nicht an Situationen, in denen ich verletzt wurde, an Menschen, die ich gehasst habe oder die mich hassen – all diese Dinge, von denen ich mir immer gewünscht haben muss, sie zu vergessen. Allerdings erinnere ich mich auch nicht an die guten Sachen«, sagte sie wehmütig. »Ich wünschte, ich würde mich besser an meine Kinder erinnern, vor allem an Chloe. Sie muss sehr unter meinem Beruf gelitten haben. Offenbar war ich ziemlich selbstsüchtig, als sie und Anthony noch klein waren. Er trägt mir nichts nach. Aber Chloe ist wütend und verletzt. Wäre ich doch nur klüger gewesen und hätte mehr Zeit mit ihnen verbracht.« Mit der Erinnerung kamen auch die Schuldgefühle.
»Du warst oft mit ihnen zusammen. Sehr oft sogar«, versicherte Matthieu. »Du hast sie überallhin mitgenommen.
Wenn du nicht gedreht hast, war Chloe bei dir am Set und die übrige Zeit nie außer Sichtweite. Du wolltest sie ja nicht einmal in die Schule gehen lassen. Sie war ein forderndes kleines Mädchen. Was auch immer du ihr gegeben hast, sie wollte mehr oder etwas anderes. Sie war nicht leicht zufriedenzustellen.«
»Ist das wahr?« Es war interessant, seine Perspektive zu hören. Carole war jedoch nicht sicher, ob er recht hatte oder ob er als Mann einfach eine andere Einstellung zu diesen Dingen besaß.
»Ich finde schon. Ich habe nie so viel Zeit mit meinen Kindern verbracht, und ihre Mutter auch nicht – dabei hat sie nicht einmal gearbeitet. Du hast ständig an Chloe geklebt. An Anthony übrigens auch. Mit ihm kam ich besser zurecht. Er war ein bisschen älter, und zu einem Jungen hatte ich wohl eher einen Draht. Wir wurden richtig dicke Freunde, bis er mich am Ende hasste. So wie du. Er hat dich oft weinen sehen.« Schuldbewusst sah Matthieu Carole an.
»Ich habe dich gehasst?«, fragte sie verdutzt. Sie erinnerte sich an Leid, aber nicht an Hass. An die Enttäuschung und den Ärger. Aber Hass schien ihr doch ein starkes Wort zu sein. Jetzt, während er hier neben ihr saß, hasste sie ihn nicht. Anthony war wütend geworden, als er ihn sah. Wie ein enttäuschtes oder betrogenes Kind hatte er reagiert. Aber letztlich hatte Matthieu nicht nur sie und ihre Kinder betrogen, sondern auch sich selbst.
»Ich weiß es nicht«, sagte er nach einigem Überlegen. »Es wäre zumindest nachvollziehbar gewesen. Ich habe dich schrecklich enttäuscht. Das war falsch. Ich habe dir
Weitere Kostenlose Bücher