Steh zu dir
übernehmen, es sei denn, in einer richtig guten Komödie. Daran habe ich in letzter Zeit öfter gedacht. Ich weiß nicht, ob mir das Humorvolle liegt, aber ich würde es gern ausprobieren. Warum auch nicht? Ansonsten möchte ich nur noch Rollen, die mir und auch den Menschen etwas sagen, die sich diese Filme ansehen. Ich will nicht einfach nur mein Gesicht auf der Leinwand präsentieren, damit mich die Leute nicht vergessen. Ein Film muss mir etwas bedeuten, sonst ist es die Sache nicht wert. Aber solche Rollen sind rar gesät, vor allem für Frauen meines Alters. Als mein Mann krank wurde, wollte ich nicht arbeiten. Und seither habe ich kein einziges Drehbuch gelesen, das mir gefiel. Stattdessen versuche ich, ein Buch zu schreiben«, gestand sie ihm lächelnd. Sie hatten schon immer interessante Gespräche geführt, über Filme, Politik, ihre Arbeit, philosophische Themen oder das Leben an sich. Matthieu war ein gebildeter, kultivierter Mensch mit wachem Verstand und vielseitig interessiert. Er hatte Literatur, Psychologie und Kunst studiert und besaß einen Doktortitel in Politikwissenschaften.
»Schreibst du ein Buch über dein Leben?«, fragte er neugierig.
»Ja und nein.« Sie lächelte verlegen. »Es geht um eine Frau, die in die Jahre kommt und nach dem Tod ihres Mannes über ihr Leben nachdenkt. Ich habe es bestimmt schon ein Dutzend Mal neu und anders angefangen, ein paar Kapitel geschrieben – und dann bleibe ich immer hängen. Stets an derselben Stelle. Ich kann einfach nicht formulieren, worin für sie nach seinem Tod der Sinn des Lebens liegt. Sie ist eine brillante Neurochirurgin und konnte ihn dennoch nicht retten. Er starb an einem Hirntumor. Da sie Kontrolle und Macht gewohnt ist, bringt sie die Tatsache, dass sie das Schicksal nicht ändern konnte, an den Scheideweg ihres Lebens. Es geht darum, zu akzeptieren, dass man in bestimmten Situationen aufgeben muss, und es geht darum, sich selbst zu verstehen und herauszufinden, was im Leben wirklich zählt. In der Vergangenheit hat sie ein paar wichtige Entscheidungen getroffen, die immer noch Auswirkungen auf ihr Leben haben. Jetzt lässt sie sich beurlauben und geht auf Reisen, um Antworten auf ihre Fragen zu finden und die Schlüssel zu den Türen, die sie lange Jahre verschlossen gehalten hat. Bevor sie weiter nach vorn gehen kann, muss sie erst in die Vergangenheit zurückkehren.« Carole war selbst überrascht, dass sie sich plötzlich so detailliert an das Buch erinnerte.
»Klingt spannend«, sagte Matthieu mit nachdenklicher Miene. Ihm war sofort klar, dass es in dem Buch um Carole und die Entscheidungen ging, die sie einst getroffen hatte. Die Wege, die sie eingeschlagen, und nicht zuletzt, wie sie sich in Bezug auf ihn entschieden hatte.
»Das hoffe ich. Vielleicht wird es eines Tages sogar verfilmt – wenn ich es denn je geschrieben bekomme. Diese Rolle würde ich gern übernehmen.« Sie wussten beide, dass sie das bereits getan hatte. »Abgesehen von dieser Schreibblockade gefällt mir die Arbeit an dem Buch. Man kann für alle Figuren sprechen und ist nicht auf eine Rolle beschränkt. Ein Autor ist allwissend, zumindest meint er es zu sein. Wie sich in meinem Fall herausstellte, ist er es nicht. Ich fand keine Antworten auf meine Fragen, deshalb kam ich nach Europa. Ich hoffte, hier den Schlüssel zu einigen Türen zu finden.«
»Hat es funktioniert?« Er sah sie gespannt an, und sie lächelte wehmütig.
»Keine Ahnung. Vielleicht. Am Tag meiner Ankunft bin ich zu unserem alten Haus gegangen und hatte ein paar Ideen. Auf dem Rückweg zum Hotel mussten wir durch den Tunnel. Den Rest kennst du. Mein Kopf war wie leer gefegt. Es ist sonderbar, nicht zu wissen, wer und wo man ist.«
Er konnte sich dies tatsächlich kaum vorstellen, aber es musste der reinste Albtraum sein.
»Stück für Stück kommt allmählich alles wieder. Aber ich weiß nicht, was ich endgültig vergessen habe. Meistens sehe ich einzelne Bilder oder Gesichter, erinnere mich an Gefühle und weiß nicht, wie sie in das Gesamtbild passen oder wie ich sie in das Puzzle meines Lebens einfügen soll.« Erstaunlicherweise erinnerte sie sich im Zusammenhang mit Matthieu an die meisten Dinge. Sie erinnerte sich stärker an Matthieu als an ihre eigenen Kinder, was ihr sehr zusetzte. Sogar die Erinnerung an Seans Tod war nur schemenhaft. Und an ihr Leben mit Jason erinnerte sie sich am allerwenigsten. Zumindest wusste sie, dass sie heute freundschaftliche Gefühle für ihn
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