Steife Prise
fest, dass es ihm immer schwerer fiel, schnell genug zu rennen. Deshalb verbrachte er mittlerweile viele Stunden in seiner Bibliothek, wo er am zweiten Band seiner Memoiren arbeitete, seiner Frau nicht zwischen den Füßen herumlief und sich ganz allgemein um nichts kümmern musste.
Bis zu diesem Augenblick war er sehr zufrieden damit gewesen, dass sie das Amt der Vorsitzenden der Richterschaft innehatte, eine Aufgabe, die sie immer wieder stundenlang außer Haus rief. Friedensreich war noch nie jemand gewesen, der großartig in Begriffen wie gut und schlecht, schuldig und nicht schuldig dachte. Stattdessen hatte er gelernt, in Begriffen wie wir und die anderen oder tot und nicht tot zu denken.
Deshalb hörte er der Gruppe, die rings um den langen Tisch am anderen Ende der Bibliothek saß und sich aufgeregt unterhielt, gar nicht richtig zu, bekam aber unweigerlich den einen oder anderen Gesprächsfetzen mit.
Sie hatte dieses vermaledeite Dokument unterschrieben! Er hätte versuchen sollen, es ihr auszureden, wusste aber, wozu das geführt hätte. Kommandeur Mumm! Zugegeben, der Mann war einer von denen, die sich überall einmischten, und vielleicht hatte er tatsächlich eine Schlägerei mit Wie-hieß-er-noch-gleich, dem Schmied jedenfalls, gehabt, der für sich genommen auch kein schlechter Kerl war, natürlich ein ziemlicher Hitzkopf, das schon, aber schließlich hatte er ihm erst neulich einen verdammt guten Drachentreiber geschmiedet, und das zu einem absolut fairen Preis. Und Mumm? Ein Mörder? Nein, ganz bestimmt nicht. Eines lernte man sehr schnell beim Militär: Mörder kamen nicht weit. Töten, wenn es der Dienst verlangte, war etwas ganz anderes. Lätitia hatte auf diesen unsäglichen Anwalt gehört; alle waren sich einig gewesen, dass es unterschrieben werden sollte, nur weil dieser elende Rust es so haben wollte.
Friedensreich schlug die aktuelle Monatsausgabe von Spei und Feuer auf. Ab und zu redete jemand ganz leise, was eigentlich ziemlich beleidigend war, wenn man bedachte, dass sie hier in der Bibliothek eines Mannes saßen, den sie kontinuierlich ignorierten. Aber der Oberst protestierte nicht dagegen. Er hatte schon vor langer Zeit gelernt, nicht zu protestieren. Stattdessen richtete er den Blick fest auf die aufklappbare Werbebeilage für feuerfeste Brutkästen und hielt sie vor sich, als wollte er damit das Böse von sich fernhalten.
Wie auch immer, zu den Worten, die er dabei nicht aufschnappte, gehörten: »Ist doch klar, er hat sie nur wegen ihres Geldes geheiratet.« Das war die Stimme seiner Frau. Und dann: » Ich habe gehört, dass sie schon verzweifelt nach einem Mann gesucht hat.« Der eigentümlich schrille Ton dieser Stimme wies ihre Besitzerin als Fräulein Pingel aus, die – wie dem Oberst unwillkürlich in den Sinn kam, während er verbissen auf eine ganzseitige Anzeige für Asbest-Zwinger starrte – selbst überhaupt keine Eile an den Tag gelegt hatte, einen Ehegatten an Land zu ziehen.
Der Oberst war schon von Hause aus ein Mensch, der der Maxime Leben und leben lassen folgte, und wenn ein Mädel nun mal durchaus mit einem anderen Mädel um die Häuser ziehen wollte, das Hemd und Krawatte trug, Pferde zuritt und ein Gesicht hatte wie eine Bulldogge, die gerade Essig von einer Distel leckt, dann war das voll und ganz ihre Angelegenheit. Man musste da ja nur mal an den alten »Klopsi« Schulte denken. Der war zwar jeden Abend im Kleid ins Offizierskasino gekommen, und auch sein Rasierwasser war für einen Kerl ziemlich blumig gewesen, aber wenn der Ruf zu den Waffen ertönte, hatte er gekämpft wie ein wildgewordener Dämon. Ach ja, es ging schon komisch zu auf der Welt.
Er suchte die Stelle auf der Seite, an der er stehengeblieben war, aber nun riss ihn die Stimme von Hochwürden Mauser wieder heraus. Mit diesen Priestern wusste er ohnehin nichts Rechtes anzufangen, verstand nicht, was die eigentlich von ihm wollten. »Ich finde es sehr verdächtig, dass sich die Familie Käsedick hier nach so vielen Jahren wieder blicken lässt. Sie nicht auch? Ich habe von Mumm schon viel in der Zeitung gelesen. Nicht gerade einer von der Sorte, die einfach so Urlaub macht, finde ich.«
»Gravid sagt, er ist in der Stadt überall als Vetinaris Terrier bekannt«, sagte Lätitia.
Am anderen Ende des Raumes steckte ihr Mann den Kopf noch tiefer in seine Zeitschrift, um nicht laut loszukichern. Gravid! Wer nannte denn sein Kind Gravid? Niemand, der schon einmal Drachen oder Fische gezüchtet
Weitere Kostenlose Bücher