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Stein und Flöte

Stein und Flöte

Titel: Stein und Flöte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans Bemmann
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erzählt wurde. Alles, was man über Rechtsentscheidungen wissen kann, besteht aus den alten Geschichten, die über solche Fälle überliefert sind. Mein Vater kannte viele, andere habe ich vom alten Barlo gehört, und manche habe ich auch selbst erlebt; denn das Recht lebt davon, daß immer wieder Neues hinzukommt. Wenn man einmal damit aufhören sollte, solche Geschichten weiterzugeben, würde damit zugleich das Recht sterben; denn der Mensch kann aus sich allein keine Gerechtigkeit finden. Er bedarf der Hilfe aller, die je über Recht und Unrecht nachgedacht haben, und auch dann kann er immer nur das tun, was er in Anbetracht all dieses Wissens für Recht hält. Nur der wird ein guter Richter sein, der auch weiß, daß er nur eine blasse Vorstellung von dem hat, was er tut. Wir leben in einem Haus, das ständig zusammenzubrechen droht, und können nicht viel mehr unternehmen, als hier einen Balken abzustützen und dort das Dach zu flicken, damit es nicht hereinregnet. Wenn du dann morgens durch die Stube gehst, brichst du schon wieder durch die Dielen. So ist das, Lauscher. Aber du mußt wohl noch etwas älter werden, um das zu begreifen.«
    Am nächsten Tag zogen sie weiter. Bis zum Waldrand begleiteten die Leute aus dem Dorf Barlos lustige Mannschaft. Ihre Gesichter sahen jetzt schon anders aus als am Tag zuvor bei der Ankunft der fahrenden Gesellen; ihre Augen waren nicht mehr stumpf, sondern voller Anteilnahme und Hoffnung. Manche lachten noch über die Späße, die ihre Gäste getrieben hatten, und in vielen Stuben waren bis spät in die Nacht Geschichten erzählt und Lieder gesungen worden, von denen man noch immer sprach.
    Am Waldrand trennten sich die Wege: die Gastgeber kehrten zurück zu ihren Hütten, Lauro der Steinsucher und Krautfaß schlugen mit ihrer Gruppe den Pfad ein, der hier nach links in den Wald abzweigt und über die Höhen hinauf ins Gebirge führt, und Barlo ritt mit Lauscher den übrigen voran auf der alten Straße, über die man am Flußufer entlang direkt nach Barleboog kommt. Von der Straße war allerdings nicht viel mehr zu sehen als zwei ausgefahrene Räderspuren, zwischen denen längst Brombeergestrüpp wucherte. Mitten auf dem Weg waren schon armstarke Birkenstämme aufgeschossen, und von oben hingen die Zweige von Buchen, Eichen und Erlen herab, daß kaum ein Durchkommen war. Lauscher hatte es im Sattel seines Esels leichter als Barlo auf seinem hohen Roß, aber bald mußten beide absteigen, weil sie sonst von ihren Tieren abgestreift worden wären. So kam der Zug nur langsam voran, immer begleitet vom Rauschen des Flusses, der ihnen rechts des Weges durch die enge Waldschlucht entgegenströmte.
    Gegen Abend erreichten sie einen kleinen Talkessel, der am oberen Ende durch eine haushohe Felsbarriere abgeschlossen wird. Der Fluß hatte sich einen Weg durch das Gestein gebahnt und brauste in tosenden Kaskaden aus dem schmalen Einschnitt hervor, um dann wieder ruhiger durch den Wiesengrund zu fließen, bis er talabwärts im Wald untertaucht. Hier war genug Platz zum Lagern. »Bleibt dicht beieinander und haltet euch fern vom Waldrand«, sagte Rauli. »Man kann nie wissen, was hier nachts unter den Bäumen umherschleicht.«
    Als die Sonne untergegangen war, kam einer der Spielleute über die Wiese zu Barlo und zeigte ihm ein Kleiderbündel, an dem eine Hexenmaske hing. »Das habe ich dort drüben im Gebüsch gefunden«, sagte er. »Ich könnte schwören, daß der Kerl, der da drinsteckte, den ganzen Tag lang mit uns durch den Wald marschiert ist. Und jetzt ist er plötzlich verschwunden.«
    Lauscher hob die Maske hoch und betrachtete sie. Diese spitzen Hauer zwischen den verzerrten Lippen hatte er schon einmal gesehen, und damals hatten hinter den Blicklöchern gelbe Augen gefunkelt. »Ich kenne die Maske«, sagte er. »Und ich fürchte, daß ich auch weiß, wer sie getragen hat. Es könnte sein, daß er jetzt auf vier Beinen durch den Wald läuft und das Rudel zusammenruft. Wir sollten uns heute nacht vorsehen.«
    Jetzt brauchte man keinen mehr zu ermahnen, sich nicht vom Lager zu entfernen. In der Mitte der Wiese wurde ein Feuer entfacht, um das sie sich im Kreis schlafen legten, und wer eine Waffe besaß, sorgte dafür, daß sie griffbereit zur Hand war.
    Rauli, der immer gern Pläne entwarf oder für Ordnung sorgte, hatte sich auch darum gekümmert, daß Wachen eingeteilt wurden. Die Stunde nach Mitternacht hatte Lauscher übernommen. Als er geweckt wurde, war der Himmel von einem

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