Stein und Flöte
er gewiß, aber er fand trotz allen Grübelns keinen Weg, wie er ihn bekommen könnte. Darüber wurde es Abend, und je tiefer die Sonne sank, desto aussichtsloser erschien ihm das Unterfangen, zu dem er ausgeritten war.
Es dämmerte schon, als er sich endlich nach einem Lagerplatz umsah. Er war schon tagelang am Bach entlanggeritten und würde, wenn Hönis Weisung richtig war, dieses Gewässer nicht verlassen, bis er am Ziele war. Dieser Bach, hatte Höni gesagt, würde nach etwa sieben Tagesritten in einen der Quellflüsse des Braunen Flusses münden, dem er dann weiter folgen müsse. Erst am Ufer dieses breiten, fischreichen Gewässers könne er mit Ansiedlungen rechnen. Also mußte er sich für die nächsten Nächte im Gebüsch verkriechen. Schließlich fand er eine Gruppe von Haselstauden, deren dichtbelaubte Ruten ihm Schutz gegen den Steppenwind boten, der gegen Abend aufgekommen war. Hier wickelte er sich in seine Decke und aß noch ein paar Bissen von den Sachen, die Narzia ihm hatte einpacken lassen.
Beim Kramen in seiner Packtasche berührten seine Finger die runde Wandung des Krügleins, das er für alle Fälle mitgenommen hatte, falls er einmal auf ›eine Stunde Kraft‹ angewiesen sein sollte. Er nahm das Gefäß heraus, um sich wieder einmal die krause, altmodische Beschriftung anzusehen, und da entdeckte er, daß er beim Einpacken das falsche erwischt hatte, jenes, das Träume enthielt, süße und schwarze. Er hatte den letzten Traum noch vage in Erinnerung als einen Sturz in ständig sich steigerndes Entsetzen und hütete sich seither, diesen Saft noch einmal zu versuchen, obgleich er jeden Abend dieser Lockung kaum hatte widerstehen können. Dann stieg wieder die Sehnsucht nach jenem Garten in ihm auf, in den er eingedrungen war bis in die geheimste Mitte zwischen den hohen Hecken, und er brannte darauf, diesen Garten wiederzufinden, und sei es nur für den einzigen, schmerzenden Augenblick vor dem Absturz in die Abgründe des Grauens. Vielleicht war es gar kein Versehen gewesen, das ihn zu diesem Elixier hatte greifen lassen; vielleicht hatte ihn etwas, über das er selbst schon keine Macht mehr hatte, dazu gezwungen, sich der Möglichkeit einer Rückkehr in diese Traumgefilde zu versichern, und er war überhaupt nicht mehr imstande, sich diesem Zwang zu entziehen. Er las noch einmal im schwindenden Licht die Aufschrift: ›Zwei Tropfen – Sturz in den Abgrund, und immer wieder‹. Immer wieder. Umkehr war jetzt nicht mehr möglich. Gierig öffnete er das Gefäß, träufelte das zähe Gebräu auf seinen Handteller und achtete nur noch darauf, daß es nicht mehr als zwei Tropfen wurden. Er spürte kaum noch, wie er auf seine Decke zurücksank, und damit ergriff ihn auch schon
Der zweite schwarze Traum
Diesmal fand er sich unversehens mitten im Gehege der düsteren Hecken wieder und wollte sich sofort auf die Suche machen nach jener Mitte, in der die beiden Figuren unter der sprühenden Fontäne standen, blieb aber gleich wieder stehen, erschrocken über die Lautlosigkeit seiner Schritte. Der Weg sah aus, als sei er mit Kies bestreut, aber unter den Sohlen knirschten keine Steine aneinander. Lauscher beugte sich nieder und betastete den Boden. Ohne Zweifel fühlte sich das an wie Kies, was da auf dem Weg lag, aber die abgeschliffenen Körner ließen sich nicht von der Stelle bewegen, als würden sie von einer unsichtbaren Kraft an ihrem Ort festgehalten.
Als er sich aufrichtete, um weiterzugehen, wurde ihm bewußt, daß alles Sichtbare merkwürdig flach wirkte; die perspektivisch sich verkürzenden Wände der Hecken rechts und links des Weges erschienen ihm wie flüchtige Kulissenmalerei. Und dann entdeckte er den Grund für diesen Mangel an Tiefenwirkung: Es gab hier keine Schatten. Woher hätten sie auch kommen sollen – nur wo es Licht gibt, können Gegenstände Schatten werfen, hier aber stand am farblosen Himmel eine schwarze Sonne, ein Unstern eisigen Entsetzens, der ihn über die gefrorenen Wege jagte, und diese Wege waren ohne Ende und schienen ihn immer wieder im Kreise zu führen. Einmal blieb er stehen, weil er auf einem Zweig einen Vogel sitzen zu sehen meinte. In der Hoffnung, endlich etwas Lebendes in dieser öden, lichtlosen Welt zu finden, trat er näher. Er hatte sich nicht getäuscht: Da saß tatsächlich ein kleiner Vogel von der Gestalt eines Rotkehlchens, wenn auch eintönig grau, saß da und bewegte sich nicht, obwohl Lauscher dicht an ihn heranging. Schließlich hob er
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