Stein und Flöte
bleiben, bis die Wege wieder frei sind und du nach Hause zurückkehren kannst. Ich erlaube dir auch, noch einen Wunsch auszusprechen.«
Urla hatte sich inzwischen im Zelt des Khans umgesehen und unter den Anführern jenen Mann erkannt, der Russo erschlagen hatte und nun den Stein in dem Netz aus Silberdraht, den sie bei der Hochzeit ihrem Mann geschenkt hatte, offen auf der bloßen Brust trug. Sie trat vor diesen Anführer, zeigte mit der Hand auf ihn und sagte: »Ich will den Stein zurück, den dieser Mann sich angeeignet hat.«
»Das wird nicht leicht sein«, sagte der Khan. »Dieser Stein gehört mir nicht, und so kann ich ihn dir nicht schenken. Aber wir Beutereiter lieben den Wettkampf, und ich erlaube dir, mit diesem Mann um den Stein zu spielen. Ich komme dir auch noch so weit entgegen, daß du die Regeln des Spiels bestimmen darfst, da du unsere Spiele nicht kennst.«
Urla schaute den Mann aufmerksam an, dann wendete sie sich wieder dem Khan zu und sagte: »Ich habe meine Waffen gewählt.«
»Und welche sind das?« fragte der Khan.
»Meine Augen«, sagte Urla.
Der Khan lächelte. »Du hast die schärfsten Waffen gewählt, über die eine Frau verfügt«, sagte er. »Wie lautet die Spielregel?«
»Er soll mir in die Augen sehen«, sagte Urla. »Und wer den Blick des anderen als erster nicht mehr erträgt, der hat den Stein verloren.«
Nachdem die Sklavin Urlas Worte übersetzt hatte, fragte der Khan den Mann, ob er damit einverstanden sei. Der nickte lachend und schien seines Sieges gewiß zu sein. Dann stand er auf und stellte sich Urla gegenüber. Die anderen im Kreis blickten gespannt auf die beiden Gegner, und man konnte in ihren Mienen lesen, daß dieser Zweikampf nach ihrem Geschmack war.
Lange Zeit standen die beiden in der Mitte des Zeltes und blickten einander in die Augen. Das Lachen schwand nach und nach aus den Zügen des Mannes. Seine Miene wurde ernst, dann begann er die Lippen zusammenzupressen, und seine Augen flackerten. Schweißtropfen traten auf seine Stirn, und im Zelt war nichts zu hören als seine keuchenden Atemzüge, die immer heftiger und rascher wurden. Der Stein glänzte in seinem silbernen Gehäuse und begann in vielen Farben zu funkeln und zu glühen. Plötzlich schrie der Mann laut auf, als empfinde er einen unerträglichen Schmerz. Er fuhr mit der Hand zur Brust, riß den Stein von der Schnur und warf ihn Urla vor die Füße. Zugleich wendete er sein Gesicht ab und schlug die Augen nieder. Alle konnten sehen, daß auf seiner nackten Brust an der Stelle, wo der Stein seine Haut berührt hatte, ein rotes Mal brannte.
So kam Urla wieder zu ihrem Stein, und sie lebte danach einen Winter lang im Lager der Beutereiter, bis der Weg über das Gebirge im Frühjahr wieder gangbar war. Seither verstand sie auch in der Sprache der Beutereiter zu reden. Der Khan gab ihr für den Rückweg ein Pferd und genug Vorräte für den weiten Weg. Ehe sie davonritt, ließ er sie noch einmal in sein Zelt kommen und sagte: »Ich gebe dir eine Botschaft für deine Leute mit. In Zukunft werden die Beutereiter das Gebirge nie mehr betreten. Der Berg ist euer Freund und schenkt euch seine Reichtümer. Aber ich habe erfahren müssen, daß er seine Freunde auch zu rächen weiß; denn er hat mir fast fünfzig Reiter umgebracht. Auch habe ich gesehen, was dein Stein gegen jenen Mann vermochte, der ihn sich genommen hatte. Es wäre vermessen, gegen einen solchen Gegner kämpfen zu wollen.« Damit entließ sie der Khan.
Kurgi aber begleitete sie noch bis an den Fuß des Gebirges. Ehe er umkehrte, sagte er zu ihr: »Wir haben deinen Mann erschlagen, und du hast mich dafür in deine Arme genommen wie dein eigenes Kind. Warum hast du das getan?«
Urla sah ihm lange in die Augen und sagte dann: »Du hast meinen Mann nicht erschlagen. Jeder ist nur für das verantwortlich, was er selber tut.«
»Aber ich hätte ihn erschlagen können; denn ich war dabei, als es geschah«, sagte Kurgi beharrlich. »Ich werde wohl mein Leben lang darüber nachdenken, warum du so gehandelt hast.«
»Tu das, Kurgi«, sagte Urla. »Und ich werde darauf achten, was du aus diesem Leben machst, das ich dir erhalten habe.« Dann strich sie mit ihrer Hand über seine bartlose Wange, wendete ihr Pferd und ritt den Bergpfad hinauf.
Lauscher hatte der Erzählung Rikkas gespannt zugehört. »War dieser Kurgi dein Großvater?« fragte er jetzt. »Der Vater Hunlis und Arnis?«
»Ja«, sagte Rikka. »Zehn Jahre später kam sein Vater auf
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