Stein und Flöte
versengte. Er warf den Span so heftig zu Boden, daß er verlöschte, und dann stand er im Dunkeln. Während er noch versuchte, sich zurechtzutasten, hörte er vom Eingang her tappende Schritte, dann fiel Lichtschein in die Höhle, und ein Mann mit einer Fackel tauchte hinter der Biegung des Stollens auf. Er war klein von Gestalt, ging ein wenig gebückt und hielt den Kienspan vor sich her, um seinen Weg zu beleuchten. So kam er langsam näher, durchquerte die Höhle, ging geradewegs auf den Spalt zu, durch den Lauscher ihn beobachtete, und hob erst dann seine Fackel, als er unmittelbar vor ihm stand. Lauscher erkannte im Schein der ruhig brennenden Flamme das zerknitterte Gesicht des alten Steinsuchers, der ihm vor vielen Jahren den Zirbel geschenkt hatte, und ehe er sich von seiner Verwunderung erholen konnte, daß der Alte noch immer seiner Arbeit nachging, sagte dieser: »Da hast du den Augenstein ja zur rechten Zeit gefunden.«
»Zur rechten Zeit?« fragte Lauscher. »Was meinst du damit?«
»Hast du nichts erfahren, als du hier in dieser Kluft gestanden hast und dein Licht noch brannte?« fragte der Alte.
»Mir schien, daß Arnilukka mir etwas zurufen wollte«, sagte Lauscher. »Kann es sein, daß ich wirklich gebraucht werde?«
»Wundert dich das?« sagte der Alte. »Jeder Mensch wird gebraucht, nur merkt das leider nicht jeder.«
»Dann will ich mich gleich auf den Weg machen«, sagte Lauscher, zwängte sich durch den Felsspalt und blieb neben dem Steinsucher stehen. Als er sah, daß dieser seinen spitzen Hammer in der Hand hielt, fragte er: »Willst du den Augenstein heraushauen?«
Der Alte schüttelte den Kopf. »Wo denkst du hin!« sagte er. »Schau ihn noch einmal an! Ist er nicht schön, wie er dort in seiner Achatschale ruht?«
Als Lauscher jetzt durch den Felsspalt blickte, war die schmale Kammer bis in den letzten Winkel erfüllt von dem pulsierenden Licht des Augensteins, das sich tausendfach auf den kristallüberzogenen Wänden brach, eine lebendige Flut von Blau, Grün und Violett, und während der Widerschein dieses Glanzes auf sein Gesicht fiel, wußte er nun schon genau, daß es Menschen gab, die ihn brauchten und auf ihn warteten.
»Ich schließe jetzt diese Kluft«, sagte der Alte. »Sie war heute nur für dich bestimmt.« Er hob seinen Hammer und schlug damit oberhalb des Spaltes gegen das Gestein. Lauscher dachte noch: Wie will er mit diesem zierlichen Werkzeug eine solch große Öffnung verschließen? Doch da donnerte schon ein gewaltiger Felsbrocken herab und verdeckte den Zugang zu diesem Wunder von Licht und Farben. Lauscher war erschrocken zurückgesprungen, doch der Alte stand noch immer auf der gleichen Stelle, obwohl die steinerne Tür keine Handbreit vor seinen Füßen niedergestürzt war. Jetzt erst drehte er sich langsam um und sagte: »So viel Zeit hast du wohl noch, daß du mit mir einen Bissen essen kannst.«
Sie gingen zusammen zurück durch die Höhle und den Stollen und setzten sich draußen in der Sonne unter die Wetterfichte, in deren Schatten Lauscher zuvor gerastet hatte. Obwohl er dabei schon eine kräftige Mahlzeit zu sich genommen hatte, schlug er die Einladung des Steinsuchers nicht aus, der einen trockenen Brotfladen aus seiner Ledertasche zog, zwei gedrechselte Holzbecher und einen kleinen Weinschlauch. Er brach das Brot in zwei Stücke, schenkte die Becher voll und sagte: »Sei mein Gast, Lauscher! Laß es dir schmecken!«
Lauscher tauchte die harten Brotbrocken in den Wein und zerkaute sie langsam, um den köstlichen Geschmack des mit Kümmel, Fenchel und Koriander gewürzten Fladens und des herben Rotweins ganz auszukosten. Sie aßen schweigend, und als der Alte die letzten Krümel zusammengefegt und für die Vögel auf den Weg geworfen hatte, sagte Lauscher: »Bisher hatte ich geglaubt, es gäbe nur einen einzigen Stein von dieser Art.«
»Ist das so wichtig?« fragte der Alte. »Auch jener Stein, den du einmal auf der Brust getragen hast, lag früher irgendwo im Berg verborgen, wo kein Licht sein Farbenspiel zum Leben wecken konnte, ein Bestandteil des Gesteins, nichts weiter. Viel entscheidender ist, was dann mit ihm geschah, zum Beispiel, daß Urla ihn dem Mann schenkte, den sie liebte, und daß sie sich, als man ihren Mann erschlagen hatte, dieses Steins erinnerte und den Sohn des Khans mit ihrem Leib vor dem Schneesturm schützte oder daß Arni auf der Suche nach dem Geheimnis dieses Steins zu Menschen ging, die er früher verachtet hatte, und
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