Stein und Flöte
mit, und ehe sie die zweite Strophe noch zu Ende gesungen hatten, wurde die Tür einer baufälligen Hütte aufgestoßen, und ein alter Mann trat heraus. Er blieb stehen und hörte aufmerksam zu, wie das Lied noch einmal gesungen wurde. Dann kam er langsam herüber zum Lagerplatz, schaute sich die sonderbare Gesellschaft an, die sich hier niedergelassen hatte, und sagte dann laut, ohne sich an jemanden bestimmten zu wenden: »Warum singt ihr, daß Barlo durch das Land reitet? Es ist lange her, daß ein Barlo hier ins Dorf geritten kam. Träumt ihr von alten Zeiten, oder was soll euer Lied bedeuten?«
Rauli stand auf, begrüßte den Alten und sagte: »Das Lied bedeutet, daß Barlo mit uns unterwegs ist, um in Barleboog nach dem Rechten zu sehen.«
»Mit euch?« sagte der Alte verwundert. »Ich kann mich nicht entsinnen, daß Barlo je mit einer Horde von Possenreißern und Straßenmusikanten über Land geritten ist.«
»Ich weiß nicht, welchen Barlo du meinst«, sagte Rauli. »Der, von dem ich spreche, ist selbst ein Spielmann.«
»Dann meine ich einen anderen«, sagte der Alte. Er schien das Interesse an den Leuten zu verlieren, die hier auf dem Dorfanger lagerten, drehte sich um und schickte sich an, wieder zu seiner Hütte zurückzugehen.
»Warte«, sagte Rauli. »Barlos gehen und Barlos kommen. Du solltest dir unseren Barlo erst einmal ansehen. Er sitzt dort drüben und spielt auf seiner Flöte.«
»Ein Barlo, der Flöte spielt!« sagte der Alte achselzuckend. »Ein Wolfsspieß wäre ihm nützlicher.« Aber er schien doch neugierig zu sein auf diesen Mann und ging zwischen den Lagernden hindurch der Flötenmelodie nach, die vom anderen Ende des Angers herüberklang. Sobald er des Flöters ansichtig wurde, blieb er überrascht stehen und betrachtete ihn genau. Barlo spielte inzwischen sein Lied zu Ende, setzte die Flöte ab und nickte dem Mann zu wie einem alten Bekannten. Da verbeugte sich der Alte und sagte: »Ich begrüße dich, Barlo. Wir haben lange auf dich gewartet. Allerdings hatten wir gehofft, du würdest eines Tages mit einer Schar von Kriegern zurückkommen, um Gisa samt ihren zottigen Knechten zu vertreiben. Unter Gisas Herrschaft hat man jetzt anderes im Sinn, als Spielleuten zuzuhören und über die Späße der Narren zu lachen. In Barleboog ist jede Freude erstorben. Weißt du das nicht?«
Statt einer Antwort hob Barlo wieder seine Flöte zu den Lippen und spielte. Lauscher hörte gespannt zu, denn er vermutete, daß er wieder einmal als Dolmetscher würde dienen müssen. »Ich begrüße dich, Dagelor«, spielte Barlo. »Aber du solltest nicht so gering von diesen Leuten denken. Hast du nicht eben selbst gesagt, daß in Barleboog jede Freude erstorben ist? Vielleicht sollte man die Leute wieder zum Lachen bringen, statt einen blutigen Krieg zu führen. Dafür habe ich die besten Spaßmacher, Geschichtenerzähler und Spielleute mitgebracht, die im ganzen Land zu finden waren. Willst du uns als Gäste in eurem Dorf aufnehmen?«
Als Lauscher beginnen wollte, Barlos Rede zu übersetzen, winkte Dagelor ab und sagte: »Du brauchst mir nicht zu helfen. Wir haben davon gehört, daß man dir die Sprache genommen hat, Barlo. Aber du sprichst jetzt so deutlich, daß man deine Worte nicht nur mit dem Verstand, sondern auch mit dem Herzen vernimmt. Ich danke dir, daß du gekommen bist, und heiße euch alle willkommen als Gäste in unseren Hütten.«
Lauscher fiel auf, daß Dagelor dies alles mit einer gewissen Feierlichkeit sagte, als begrüße er einen hochgestellten Gast. Barlo schien hier durchaus kein Unbekannter zu sein und auch nicht als bedeutungsloser Mann zu gelten. Ehe Lauscher jedoch eine Frage an Dagelor richten konnte, schrie dieser etwas zu seinem Haus hinüber, offenbar einen Namen, den Lauscher nicht verstehen konnte. Gleich darauf kam ein etwa neunjähriger Junge aus der Tür, den Dagelor zu sich herwinkte. Der Alte gab ihm den Auftrag, die Leute aus den Hütten zu holen und ihnen zu sagen, daß Gäste eingetroffen seien, die es verdienten, freundlich aufgenommen zu werden. Der Junge betrachtete neugierig Barlo und seine Gefährten, doch auf einen ungeduldigen Wink des Alten hin rannte er davon, lief von Haus zu Haus und rief mit gellender Stimme seine Nachricht aus. Jetzt wurden überall die Türen geöffnet, aber es waren nur ein paar alte Männer und im übrigen Frauen und kleinere Kinder, die heraustraten und zu den Fremden herüberstarrten. Erst als Dagelor vortrat und ihnen ein
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