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Stein und Flöte

Stein und Flöte

Titel: Stein und Flöte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans Bemmann
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paar Worte zurief, begannen sie zögernd näherzukommen. Auf Lauscher wirkten diese Menschen wie scheue Tiere, die jeden Augenblick bereit waren, in ihre Höhle zurückzuflüchten. Dagelor mußte sie noch mehrmals durch Worte und Gesten ermuntern, näher zu kommen, bis sie sich endlich um ihn versammelt hatten, ein armseliger Haufen verängstigter Menschen, die sich zusammendrängten, als wolle man ihnen ans Leben.
    »Wo sind eure jüngeren Männer?« fragte Lauscher.
    »Gisas Knechte haben sie abgeholt«, sagte Dagelor, »jeden der noch für die Arbeit zu gebrauchen war, die sie für so dringlich hält. Wir wissen nicht einmal, wohin man sie geschleppt hat, und haben kaum noch Hoffnung, sie wiederzusehen. Du bist spät gekommen, Barlo.«
    Als er das hörte, stand Barlo auf und fing wieder an zu flöten. Aber er spielte nicht sein Narrenlied, denn das hätte diesen Menschen wohl wie Hohn in den Ohren geklungen. Er sagte ihnen in seiner Sprache, daß er nach Barleboog ziehen werde, um Gisas Macht zu brechen. »Ihre böse Trauer ist über euch gekommen wie eine Krankheit und hat euch jeden Mut genommen. Gegen diesen schwarzen Zauber ist mit Spießen und Schwertern nichts auszurichten, sondern nur mit der Fröhlichkeit der Spielleute und Geschichtenerzähler.« Und dann sprach er nicht mehr, sondern begann mit den Tönen seiner Flöte Bilder zu malen. Lauscher sah das weite Tal von Barleboog zwischen den endlosen Wäldern, er sah inmitten des Tals das Schloß aufragen, fahl und düster im Schatten der bösen Macht Gisas, und die Düsternis breitete sich aus über Wiesen und Äcker bis an die Grenzen des Tales wie zäher, kalter Schlamm, schwappte drüber hinaus, und die Leute aus dem Dorf stöhnten vor Entsetzen, als sie das sahen. Doch dann änderte sich die Melodie, von den Rändern des Bildes begann sich Fröhlichkeit auszubreiten, die düstere Flut wallte auf in kochenden Strudeln und löste sich nach und nach zu blassem Nebel, den der Wind über das Tal hinwegtrieb, bis der Dunst sich in den Wipfeln der Bäume am Horizont verlor, und dann leuchteten Farben auf, grüne Weiden, türkisblaue Seen, rot brannte der Mohn an den Feldrainen, und von den Mauern des Schlosses löste sich die schwärzliche Rinde, bröckelte ab und gab helle Fassaden frei, das Tor öffnete sich weit, und Menschen strömten heraus, lachten und tanzten, legten einander die Arme um den Hals und küßten sich. Lauscher war mitten unter ihnen, hörte ihre Stimmen, sah ihre fröhlichen Gesichter und sah auch dieses Gesicht, das ihn anblickte, dieses Gesicht, das er kannte und doch noch nicht kannte, diese Augen von unbeschreibbarer Farbe, die er schon gesehen hatte und doch suchte, und er hielt für einen Augenblick ein Mädchen in den Armen, das ihn aus diesen Augen anschaute, ganz nah und doch wie aus unendlicher Ferne. Dann brach Barlos Flöten ab.
    Lauscher wollte das Bild festhalten, aber es verblaßte, und er sah wieder die Dorfleute, die im Kreis um Barlo standen. Doch der Ausdruck von Hoffnungslosigkeit, der ihren Blick stumpf gemacht hatte, war von ihren Gesichtern geschwunden. Vielen standen Tränen in den Augen, und jetzt umarmten sie einander, als wollten sie dieses Bild, das Barlo ihnen gezeigt hatte, am Leben erhalten. »Kommt, seid unsere Gäste!« sagte Dagelor noch einmal, und jetzt endlich wagten sich die Dorfbewohner in Barlos Heerlager. Jeder von ihnen führte ein paar aus dem fahrenden Volk zu seiner Hütte.
    Dagelor nahm Barlo und Lauscher in sein Haus auf. Die Frau seines Sohnes, die mit ihren beiden Kindern bei ihm wohnte, bot den Gästen dürres, kleiiges Fladenbrot und Ziegenkäse an, dazu bekam jeder einen Becher Ziegenmilch. »Ihr müßt mit dem vorliebnehmen, was wir haben«, sagte Dagelor. »Als der alte Barlo noch über Land ritt, wurde er hier anders empfangen, aber seit Gisas Knechte die jungen Männer weggeschleppt haben, müssen die Frauen die ganze Arbeit machen, und wir Alten können ihnen nur wenig zur Hand gehen.«
    Es war nicht zum erstenmal, daß Lauscher von diesem Barlo hörte, der über Land zu reiten pflegte und über den jeder außer ihm selbst Bescheid zu wissen schien. Er hatte sich oft gefragt, was den Leuten dieser Name bedeuten mochte. »Wer war dieser alte Barlo und warum ritt er ständig über Land?« sagte er laut und erschrak zugleich, daß er diese Frage, die er eigentlich nur sich selbst stellte, ausgesprochen hatte.
    Dagelor blickte ihn verwundert an. »Fragst du das im Ernst?« sagte er, und

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