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Stein und Flöte

Stein und Flöte

Titel: Stein und Flöte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans Bemmann
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nicht einmischen.«
    »Wenn sein Sohn sprechen darf, dann wird es auch deine Tochter dürfen«, sagte sie. »Und ich sage noch einmal, daß ich es nicht für recht halte, wenn so über meinen Bruder gesprochen wird.«
    »Da bin ich anderer Meinung«, sagte Fredebar. »Ich bitte dich, mir zu glauben, daß ich nichts gegen deinen Bruder habe. Aber wie soll man einen Rechtsspruch finden, wenn man sich von Gefühlen verwirren läßt?«
    »Ich lasse mich nicht verwirren«, sagte Raudis. »Aber es wäre schlimm um die Gerechtigkeit bestellt, wenn ein Richter vergessen müßte, daß er ein Herz hat. Ich weiß sehr gut, zu welchen Taten mein Bruder fähig sein könnte. Ja, ich liebe meinen Bruder, aber das heißt doch nur, daß ich ihn besser kenne als du. Und deshalb weiß ich auch, daß er Wargos nicht erstochen hat.«
    »Das wird dir nicht viel nützen, wenn du es nicht beweisen kannst«, sagte Fredebar, aber es war ihm zugleich anzumerken, daß ihn die rückhaltlose Art beeindruckte, mit der Raudis für ihren Bruder eintrat. Raudis errötete unter seinem bewundernden Blick und sagte dann: »Wenn hier überhaupt ein Beweis zu führen ist, dann traue ich mir schon zu, ihn an den Tag zu bringen.«
    Barlo war diesem Gespräch aufmerksam gefolgt. Er nickte Raudis zu und sagte dann: »Ich will dir einen Vorschlag machen, Kratos. Unsere Kinder haben uns eben gezeigt, wie morgen die Verhandlung geführt werden soll: Mein Sohn wird der Ankläger sein, denn er wird sich nur von erwiesenen Tatsachen leiten lassen; deine Tochter aber soll ihren Bruder verteidigen, denn wenn etwas für seine Unschuld spricht, wird sie es herausfinden. Ich werde der Richter sein, der alle anhört und dann den Spruch fällt.« Kratos stimmte nach einigen Bedenken zu, und bald darauf legten sich alle schlafen.
    Nachdem sie am nächsten Morgen gefrühstückt hatten, fragte Barlo: »Wo soll die Verhandlung stattfinden?«
    »Vor meinem Haus«, sagte Kratos. »Ich habe schon einen Tisch und Stühle hinaustragen lassen. Die Leute werden sehen wollen, ob in dieser Sache, die meinen Sohn betrifft, gerecht verfahren wird.«
    Sie gingen vor die Tür und sahen, daß sich schon eine Menge Leute versammelt hatten, die in Gruppen beieinander standen und halblaut über den Mordfall sprachen. Als Barlo mit Kratos und den beiden jungen Leuten vor die Tür trat, verstummten die Wartenden und bildeten einen weiten Halbkreis um den Gerichtstisch. Barlo setzte sich auf den Richterstuhl und forderte Raudis und Fredebar auf, rechts und links von ihm Platz zu nehmen. Kratos war stehengeblieben und sagte zu einem seiner Knechte: »Führe meinen Sohn Terlos vor den Richter!« Dann wendete er sich an die Zuschauer und rief: »Lujos, der Großknecht des ermordeten Wargos, möge als Zeuge vor dem Gericht erscheinen!« Daraufhin trat ein großer, vierschrötiger Mann von etwa 30 Jahren vor und sagte: »Hier bin ich, und ich habe den Stallknecht Rullos mitgebracht, der meine Worte bezeugen kann.« Bei diesen Worten schob er einen grauhaarigen, schmächtigen Mann vor den Richtertisch.
    »Dann soll auch dieser Rullos hier stehenbleiben«, sagte Kratos. »Ferner habe ich Warja, die Tochter des Wargos, vorgeladen.«
    »Hier bin ich«, sagte ein Mädchen, das ein schwarzes Trauertuch über den Kopf geschlagen und wie einen weiten Mantel um die Schultern gerafft hatte. In dieser Verhüllung war von Warja nichts weiter zu sehen als ein schmaler Ausschnitt ihres verweinten Gesichts. Sie blickte über Barlo hinweg zur Tür, aus der jetzt Terlos herausgebracht wurde, und auch Terlos blickte sie an und lächelte kurz, ehe der Knecht ihn um den Tisch herumführte und dem Richter gegenüberstellte. Kratos hatte seinem Sohn die Hände auf den Rücken fesseln lassen; er hätte wohl kaum zu befürchten gehabt, daß Terlos sich dem Gericht durch die Flucht entziehen würde, aber er wollte wohl zeigen, daß er es in diesem Fall besonders genau genommen habe. Sobald Terlos vor ihm stand, sagte Barlo dann auch gleich zu dem Knecht: »Nimm ihm die Fesseln ab!« und man sah es dem Knecht an, daß er diese Arbeit gern tat. Terlos nickte dem Knecht zu und sagte dann: »Ich danke dir, Barlo. Ich wäre unter allen Umständen vor diesem Gericht erschienen, und wenn ich Tag und Nacht hätte laufen müssen.«
    »Danke mir nicht zu früh«, antwortete Barlo, aber er sagte das nicht unfreundlich.
    »Wen willst du zuerst hören?« fragte Kratos.
    »Den Großknecht Lujos«, sagte Barlo. »Die anderen beiden Zeugen

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