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Steinbock-Spiele

Steinbock-Spiele

Titel: Steinbock-Spiele Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Silverberg
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eigentlich? Für einen Wundermann? Für eine Art Superwesen von Galaxi Zehn? Ich will dir sagen, was ich wirklich bin, ich, Thomas C. Ich bin eine Ansammlung von Zeichen auf einem Blatt Papier. Ich bin etwas Abstraktes, gefangen in einer bloßen Fiktion. Ein ›Held‹ in einer ›Geschichte‹. Hilflos, unkörperlich, unwirklich. UNWIRKLICH! Während du da draußen – du hast Augen, eine Lunge, Beine, Arme, ein Gehirn, einen Mund, alles funktionsfähig. Du kannst dich bewegen. Du kannst handeln. Arbeite für die Revolution! Du handelst in der wirklichen Welt; du kannst es erreichen, wenn überhaupt jemand! Kämpf um… mpff… glbsch… He, nimm deine dreckigen Pfoten von mir – Alle Macht dem Volke! Nieder mit den faschistischen Schweinen… he – Hilfe-HILFE!

Breckenridge und das Kontinuum
    Dann sagte Breckenridge: »Ich könnte euch heute abend vielleicht die Geschichte von Ödipus, dem König der Diebe, erzählen.«
    Der Spätnachmittagshimmel war schlimm: grau, fleckig, stürmisch. Er vibrierte unter einer fremdartigen Elektrizität. Breckenridge hatte sich an diesen Himmel nie gewöhnen können. Tag für Tag, während sie die Wüste durchquerten, lähmte er ihn mit der Qual unbegreiflichen Verlustes.
    »Ödipus, König der Diebe«, murmelte Scarp. Arios nickte. Horn blickte zum Himmel. Militor runzelte die Stirn, »Ödipus«, sagte Horn. »König der Diebe«, sagte Arios.
    Breckenridge und seine vier Begleiter kampierten in einem verfallenen Pavillon in der Wüste – ein schönes Bauwerk aus Granitsäulen und schwarzen Marmorböden, errichtet vielleicht für eine bezaubernde Geliebte eines vergessenen Fürsten des Städtebauer-Volkes. Der Pavillon stand nur eine kurze Strecke vor den Mauern der großen, toten Stadt, die sie endlich am Morgen betreten würden. Früher einmal war das vielleicht ein Sommerhaus gewesen, ein Ort für Sorbet und Schwimmen, in jener vergangenen Zeit, als diese Wüste geblüht hatte und Pfauen durch duftende Gärten stolziert waren. Ein Phantasiegebilde aus Tausendundeiner Nacht: lange, lange her, Tausende von Jahren her. Wie verwirrend war es für Breckenridge, sich daran zu erinnern, daß diese mächtige, jetzt von der Zeit verwitterte Stadt in einer viel weniger alten Zeit als seiner eigenen gegründet worden war, geblüht hatte und untergegangen war. Die Fesseln, die das Kontinuum zusammenhielten, hatten sich gelockert. Er flatterte in den Zeitstürmen.
    »Erzählen Sie Ihre Geschichte«, sagte Militor.
    Sie waren ruhelos, eifrig; sie nickten mit ihren Köpfen, sie rutschten herum. Scarp goß Brennstoff ins Lagerfeuer. Die Sonne versank hinter den nackten, niedrigen Bergen am Westrand der Wüste; die erstickende Hitze des Tages fegte plötzlich himmelwärts, und ein dünner Wind pfiff durch die Kolonnade gefurchter grauer Säulen, die den Pavillon umgab. Körnchen von rötlichem Sand tanzten in stetigem Strom über den polierten Steinboden, auf dem Breckenridge und jene, die ihn begleiteten, hockten. Die hohe Westmauer der nahen Stadt streifte schon Schattenärmel über.
    Breckenridge zog seinen dünnen Umhang enger um sich. Er starrte der Reihe nach die vier Kapuzengestalten vor sich an. Er preßte die Finger auf den kalten, glatten Stein, um sich abzustemmen. Mit leiser, eintöniger Stimme sagte er: »Dieser Ödipus war Herrscher im Land der Diebe, ein kühner, wilder Mann. Er entwickelte eine unerlaubte Zuneigung zu Eurydike, seiner Mutter. Er zwang ihr seinen Willen auf und wurde so heftig, daß sie bei ihrer Paarung das Leben verlor. Von der Schuld getroffen, und aus Angst, ihre Verwandten könnten Rache nehmen, entfloh Ödipus seinem Königreich durch die Luft, nachdem er sich unter Aufsicht des Zauberers Prospero Flügel gemacht hatte; aber er flog zu hoch hinauf und geriet in den Weg des Streitwagens seines Vaters Apollo, des Sonnengottes. Erzürnt über dieses Eindringen, hüllte Apollo Ödipus in Hitze ein, und das Wachs, mit dem er die Federn seiner Schwingen zusammengeklebt hatte, schmolz. Einen ganzen Tag und eine Nacht lang stürzte Ödipus durch den Himmel herab, fiel schließlich ins Meer und sank durch den Meeresboden in die dunkle Welt darunter. Dort weilt er für alle Ewigkeit, blind und lahm; aber jeden Frühling taucht er wieder unter den Menschen auf, und wenn er über die Felder hinkt, sprießt grünes Gras hinter ihm auf.«
    Es wurde still. Die Dunkelheit holte den Himmel ein. Die vier abgerundeten Fragmente des zersprungenen alten Mondes tauchten auf

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