Steine der Macht - Band 4
Senenmut, der Architekt und Baumeister dieses Tempels, sein Grab direkt unter dem Aufweg zum Heiligtum errichten ließ, um auch im Tode seiner geliebten Königin nahe zu sein. Senenmut war mehr als nur ihr Baumeister. Man behauptet, er war ihr Geliebter und Erzieher ihrer Tochter Neferu Ra. Er war wesentlich älter als Hatschepsut, welche im Alter von achtunddreißig Jahren zusammen mit ihrer zwölfjährigen Tochter und Senenmut für immer von der Bildfläche verschwand. Der Eingang zum Grab des Senenmut war zwar den Archäologen schon lange bekannt. Es befand sich aber dort drinnen nichts Nennenswertes. Trotzdem wurde der Eingang wieder versperrt und das Grab als nicht zugänglich bezeichnet. Für uns war es jedoch nicht schwierig, Zutritt zu erlangen. Durch die jahrhundertealte Erfahrung unserer Familie, was Gräber anbelangt, fanden wir dort in einer bislang unbekannten Kammer Lobeshymnen an die Hatschepsut in die Felswand gemeißelt. Ich habe die Texte in mehrere Sprachen übersetzen lassen. Hier haben Sie Kopien davon. Sie sind sehr schön geschrieben.“ Nach diesen Worten erhob sich Rassul und ging nochmals zur Truhe am Fenster. Er nahm einige Papierrollen heraus und überreichte sie Wolf.
Dieser bedankte sich und nahm die erste Rolle in die Hand. Er begann vorzulesen:
Die Zeit
Ein leises fast unhörbares Raunen
aus der Weite des Landes von Seth
als trüge der Wind noch die Stimme, die lange verstummte
Ein Abdruck deines Fußes
befreit des Staubes von Tausenden Jahren
wiedergekehrt, das Antlitz von Ra zu schauen
Wie gleißendes Gold vom Tempel erwacht erneut Dein Geist
an den Stätten, wo Großes vollbracht
Die Herrin der beiden Länder
Von einem fast ehrfürchtigen Schauer erfasst, blickte Elisabeth zu Wolf, der soeben die erste Rolle wieder auf den Tisch legte. „Das ist wunderschön geschrieben“, flüsterte sie, während er die nächste Rolle nahm und zu lesen begann:
Der Morgen
Dein Erwachen verkündet die Morgenröte,
welche mit dem Kräuseln der Wellen des Nils einhergeht
Das Öffnen Deiner Augen ist,
als ob die Arme von Re die Spitzen der Obelisken erstrahlen ließe
Und wenn Du bekleidet von feinstem Tuche
die Treppen des Palastes herunterschreitest, ist es,
als wenn Sonne und Mond gemeinsam
ihren Glanz darbringen möchten
Für einen kurzen Augenblick nur hält alles ringsum inne
und schweigt als Tribut für die Herrin der beiden Länder
Jetzt meldete sich Herbert zu Wort: „Man muss sich einmal vorstellen, vor über dreitausendfünfhundert Jahren schreibt dieser Baumeister solche Gedichte, um seiner Geliebten zu huldigen. Einfach unglaublich!“
Wolf griff nach der nächsten Rolle:
Der Mittag
Ra hat nun seine Höhe erreicht
Von wo er alles Leben erhält
Der Nordwind hält inne
Brütende Hitze über dem Land
Nur der Strom wie ein Hüter der Zeit
Zieht an den Feldern vorbei
Das Volk, es ruhet im Schatten
Wie Du im Palaste
Oh Herrin der beiden Länder
„Ja“, meinte Rassul, „diese Texte sind in den Felsen gehauen. Wir konnten also kein Geld damit machen. Auch durften wir die Kopien niemandem zeigen, denn so wäre es offenbar geworden, dass wir dort unten in Senenmuts Grab etwas gefunden haben. Sie sollten in Ihrem Land auch nichts davon erzählen, dann haben wir hier Ruhe. Aber seit dieser Dr. Hamam, Allah sei Dank, nicht mehr im Amt ist, geht es ohnehin viel gemütlicher zu.“
Wieder nahm Wolf eine Rolle in die Hand und begann vorzulesen.
Der Abend
Bedächtig senkt Ra sich über den Bergen von Theben hernieder
und Stille kehrt ein im Schilfe
Die Laute der Vögel verstummen
Nur die Barke der Erhabenen durchschneidet
lautlos den ehernen Glanz des Stromes
Nut am Firmament und an den Pylonen
die Feuer erleuchten Deinen Weg
Sistrum und Zimbeln erklingen, Dein Herz zu erfreuen
Die Dienerschaft eilt herbei und verneigt sich
Vor Dir, oh Herrin der beiden Länder
„Einfach grandios, wie sich diese Leute damals auszudrücken verstanden“, staunte Wolf. „Und vermutlich gehören wir jetzt zu den ganz wenigen, die diese Texte jemals zu Gesicht bekommen haben.“ Jetzt waren noch zwei Rollen auf dem Tisch, er nahm die vorletzte und begann zu lesen.
Die Flut
Glühende Hitze liegt über den Feldern,
Der Flügel des Ibis ist träge geworden
Steigend der Pegel der Flut aus den nubischen Bergen
Still und zufrieden ruht Dein göttlicher Blick auf den Gefilden
gesegnet von Amun und Hathor, trägt Frucht bald die Scholle
Die Speicher, sie
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