Steinhauer, Franziska
den Eindruck gewinnen, er ist tot.
„Habt ihr schon gefrühstückt?“
„Mäuse!“, antwortet Helene prompt.
„Hmmm, lecker. Also hat Amalia euch Hefemäuse vorbeigebracht. Wie lieb von ihr. Der Papa wollte keine?“
„Nein!“
„Amalia hat wohl auch die Hühner gefüttert?“
„Ja. Und wir haben die Eier eingesammelt. Amalia meint, Papa kann davon Rührei für uns machen. Aber Papa antwortet nicht“, beschwert sich Helene.
Anton zwingt seinen Bruder aus dem Bett.
Er stellt ihn unter die Dusche.
Legt ihm ein frisches Hemd und eine Hose heraus.
Als Jakob fertig angezogen vor ihm steht, hat Anton ein schlechtes Gewissen. Die Arme baumeln leblos an den Seiten des abgemagerten Mannes, sein Blick ist abwesend.
„Jakob, du kannst die Kinder nicht der Obhut Amalias überlassen! Amalia ist im Ort nicht gut gelitten – dadurch machst du alles nur noch schlimmer!“
„Lasst mich doch einfach alle in Ruhe!“, jammert Jakob. „Was willst du eigentlich von mir? Jeden Tag kommst du her und kommandierst mich rum. Nimm die Kinder mit und lass mich gehen. Ich will nur noch sterben!“
Rasch wirft Anton einen Blick über die Schulter.
Aber die Kinder sind in der Küche, sie haben die Worte ihres Vaters nicht gehört.
„Ach, Jakob“, seufzt Anton. „Wenn du auch noch stirbst, sind die Kinder Waisen! Tante und Onkel können nie ein vollwertiger Ersatz für den leiblichen Vater sein. Du machst den Kindern Angst! Gib ihnen doch wenigstens die Sicherheit, dass sie dich nicht auch noch verlieren!“
Jakobs Blick geht durch Anton hindurch.
„War Dr. Gneis denn hier?“
„Ja.“
„Hat er dir ein Medikament aufgeschrieben?“
„Ja. Aber ich habe das Rezept zerrissen. Ich lasse mir Maria nicht mit Pillen aus meinen Gedanken reißen!“
Anton seufzt.
„Es ist kalt hier. Zu kalt für die Kinder. Vergiss nicht, wie klein sie noch sind. Wir werden Holz holen! Aber zuerst wird gefrühstückt.“
Anton erzählt Jakob nichts davon, dass selbst die Leute in St. Nikolaus schon von den Gerüchten gehört haben und „Mörderbruder“ hinter ihm her schreien, wenn er durch die Straßen geht. Er ist stark, er wird sich das nicht bieten lassen. Um sich selbst macht er sich keine Sorgen, aber Jakob ist schwach. So kraftlos hat er den Bruder noch nie erlebt.
Hilflos wartet er auf eine Antwort.
Doch „gut“, ist alles, was Jakob zu sagen hat.
Anton gibt sich noch nicht geschlagen. „Vor dem Tor stand wieder ein Schild ,Mörderbrut, verrecke!‘ Wenn du nicht bald wieder zu dir findest, kommt es noch zu einer Katastrophe!“
„Die ist schon da. Maria ist gestorben!“
Jakob lässt sich auf die Bettkante fallen.
„Wenn Maria dich so sehen könnte, würde sie dich hassen!“ Der Bruder reißt die Augen weit auf. „Nein!“
„Oh doch. Sie hat dich geliebt, aber ihre Kinder auch! Reiß dich zusammen! Das Leben ist hart und ungerecht, daran kann niemand etwas ändern, niemand kann es sich aussuchen!“ Er schüttelt Jakob und spürt selbst durch das Sakko hindurch die hervortretenden Schulterknochen.
„Wie spät ist es?“, fragt Jakob gleichgültig.
„Vierzehn Uhr. Die Kinder haben Hunger. Ich mache euch Eier, und du trinkst jetzt einen Kaffee! Wenn alle gegessen haben, holen wir das Holz!“
Jakob schlurft in die Küche.
Tränen steigen in Antons Augen, aber hier ist kein Platz für Sentimentalitäten, hier geht es nur noch ums Überleben!
31
Die Bewohner des Ultnerhofes wurden am nächsten Morgen unsanft aus dem Schlaf gerissen.
Susanne hatte, wie an jedem Morgen, das Grab ihrer Tochter besucht. Rosa war in diesem Sommer beim Toben im Stausee ertrunken. Es war so schnell gegangen, dass niemand am Ufer erkannt hatte, was dort draußen passierte. Als einige Jugendliche in den See hineinsprangen, um sie zu retten, war es bereits zu spät.
Susanne wollte es erst gar nicht glauben: Ihre lebenslustige Tochter sollte nie mehr nach Hause kommen, sie würden nie mehr zusammen im Garten sitzen und über Ereignisse oder gemeinsame Erlebnisse lachen! Und selbst heute, vier Monate nach ihrem Tod, glaubte sie noch immer, wenn die Gartenpforte ging, Rosa käme nach Hause. Ihr Mann hatte die Tote aus dem See identifiziert – aber Männer konnten sich leicht täuschen, waren oberflächlich. Dennoch, obwohl sie fest davon überzeugt war, ein fremdes Kind läge in Rosas Sarg, kam sie jeden Morgen nach dem Frühstück auf den Friedhof und legte eine Blume aufs Grab. Rosa war ihr einziges Kind gewesen, und schon
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