Steinhauer, Franziska
seit ein paar Jahren brauchte sie sich keine Gedanken mehr über Empfängnisverhütung zu machen. Sie wurde alt.
An diesem Tag wehte ein rauer, eisiger Wind, und Susanne hatte den Reißverschluss ihres Parkas bis zum Anschlag hochgezogen. Eine Mütze schützte sie vor den hartenRegentropfen, die wie Nadeln auf ihre Haut trafen. Sie sah sich um. Es würde ein furchtbarer Herbst werden.
Suizid wurde im Dorf gemunkelt, wenn man glaubte, sie höre es nicht. Doch das war natürlich völliger Blödsinn. Rosa hatte keinen Grund gehabt, sich umzubringen. Die Leute täuschten sich. Bestimmt.
Der Herbst würde still werden. Ohne Rosa. Mit Temperaturen, wie sie sonst erst im Winter erreicht wurden – und wie sollte sie Weihnachten überstehen? Ohne Rosa. Es würde ein einsames, freudloses Weihnachtsfest werden. Tränen rannen ihr über die kalten Wangen. Doch Rosa käme vielleicht zurück, stünde plötzlich wieder vor der Tür und hätte nur ein wenig Abstand gebraucht. Welche Freude das wäre!
Susanne wischte sich die Tränen mit ihren Fleecehandschuhen weg und betrat mit zaghaften Schritten den Friedhof.
Sie gehörte nicht hierher.
Sie hatte niemanden zu betrauern.
Langsam ging sie weiter, als bewältige sie mit jedem Schritt ein schier unüberwindliches Hindernis.
Rosas Grab war auf der neuen Terrasse angelegt worden. Mit gesenktem Kopf quälte sie sich näher heran.
Erst als sie ihr Ziel so gut wie erreicht hatte, hob sie den Blick vom Boden und erstarrte.
Quer über dem Erdhügel lag …
Laut kreischend und wild mit den Armen um sich schlagend war Susanne zum Tor zurückgerannt und talwärts gestürmt. Der Wirt des Ultnerhofs hörte das Schreien und trat vor die Tür, um nachzusehen, was geschehen war. Er erkannte die kreischende Frau sofort, lief ihr entgegen und umfasste sie mit seinen muskulösen Armen.
„Susanne!“
Sie trommelte mit den Fäusten gegen seinen Brustkorb, zu keiner artikulierten Äußerung fähig. Der Regen durchnässte ihre Haare, die Mütze hatte sie verloren, und der schneidende Wind peitschte ihr die nassen Strähnen ins Gesicht. Andere Dorfbewohner kamen herbei, sahen hilflos und betreten zu, wie der Wirt vergeblich versuchte, die Frau zu beruhigen. Niemand ahnte, was sie so aus der Fassung gebracht hatte.
Rainer, Susannes Mann, stieß zu der aufgeregten Gruppe hinzu und nahm Susanne liebevoll in den Arm. Zärtlich strich er ihr über den Kopf und flüsterte beruhigend auf sie ein. Entschuldigend sah er dabei in die erwartungsvollen Gesichter der Umstehenden.
„Sie hat es schwer. Lasst ihr noch etwas Zeit, Rosas Tod zu verkraften.“
Plötzlich löste sich Susanne aus seiner Umarmung und sagte:
„Auf Rosas Grab … “ Sie schluchzte erneut heftig auf. „Auf Rosas Grab liegt etwas Totes!“, beendete sie den Satz schrill.
„Was!?“
Ein paar Frauen blieben bei Susanne zurück, während eine größere Gruppe zum Friedhof aufbrach.
Empört, entsetzt, schockiert und verletzt starrten sie auf das, was von einem boshaften Menschen auf dem Grab abgelegt worden war.
Pfarrer Gabriel Weißgerber sitzt inmitten seiner neuen Gemeinde. Vor wenigen Monaten erst hat er die neue Stelle angetreten und seinen Vorgänger abgelöst, der in den wohlverdienten Ruhestand gegangen ist.
„Die Menschen hier sind sehr gläubig. Aber manchmal auf eine etwas unorthodoxe Art. Einige von ihnen glauben, der Ort wäre mitsamt den Einwohnern an den Leibhaftigen verkauft worden“, hatte ihm der Kollege noch erklärt, bevor er das Ultental verlassen hatte.
Pfarrer Weißgerber weiß längst um die besonders harten Prüfungen, die den Menschen in St. Gertraud von ihrem Gott auferlegt worden sind. Gerüchte, Tratsch und Halbwahrheiten führen immer wieder zu neuer Unruhe.
Dieser unaufgeklärte Mord!
Der Seelsorger hat es nun schon oft genug gehört: Da die gottesfürchtige Haushälterin mit dem Kopf in Richtung Fußende des Bettes aufgefunden wurde, sieht es für einige so aus, als sei der Teufel im Wettstreit mit dem Herrn um die Seele der Platzgrummer als Sieger hervorgegangen!
Wie ein fernes Rauschen hört er die Stimmen der anderen, während er seinen eigenen Gedanken nachhängt.
„Tja, es gehört eben nicht zur Grundausbildung eines Pfarrers, zu wissen, wie man geschickt einen Einbruch vortäuscht. Sonst wäre ja das Fenster nicht von innen aufgebrochen worden. Sogar die Scherben lagen draußen auf dem Schuppendach! Dabei weiß ja nun wirklich jeder, dass die nach innen fallen, wenn man die
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