Steinhauer, Franziska
sie Heiko.
Geduckt lief er zum Tor und verschwand in der Dunkelheit. Wie konnte er sie einfach alleinlassen! Ohne ihn war sie doch völlig schutzlos.
Allein mit dem Tod.
Heiko strich durchs Dorf.
Er wollte kein Aufsehen erregen, doch die meisten Bewohner hielten sich Wachhunde, die ordnungsgemäß anschlugen, sobald er an den Hoftoren vorbeikam. Allerdings wusste Heiko auch, dass die meisten Dörfler nicht zu Hause waren, sondern hinter der Schuppenwand des Satanistenanwesens saßen und spionierten. Dr. Gneis hatte Recht gehabt, es war gut gewesen, zu verschwinden, bevor man ihn in der Nähe der Sekte entdeckte.
Eine graue, regenschwere Wolke senkte sich in die Straßen, die Luft war trübe, kalt und nass. Irgendwo maunzte eine Katze, die den richtigen Zeitpunkt zur Heimkehr verpasst hatte. Ein leises Quietschen bezeugte, dass man auf sie gewartet hatte.
„Spinner!“, murmelte Heiko. „Bleiben die halbe Nacht auf, nur um auf das streunende Vieh zu warten. Das würde mir nicht im Traum einfallen!“
Zügig ging er weiter, erreichte den Friedhof.
Damals, bei der Beerdigung seiner Mutter, war er wie betäubt gewesen. Alles hatte seine Bedeutung verloren – mit Ausnahme von Helene. Beide standen Hand in Hand vor dem Grab, starrten hinein und konnten nicht begreifen, dass sie nun allein waren.
Allein mit dem Mann, den sie Vater nannten und von dem die Menschen behaupteten, er habe ihre Mutter umgebracht.
Noch immer spürte Heiko das intensive Brennen und den krampfähnlichen Schmerz von damals in seinem Inneren.
Er hatte sich so entsetzlich geschämt.
Doch das war erst der Anfang. Schlimmeres sollte noch folgen.
Er hatte seine Mutter dem Tod überlassen – dabei wäre es so einfach gewesen, sie zu retten.
Warum nur war er damals zu feige, unter der Decke hervorzukriechen und sich dem Tod in den Weg zu stellen?
Helene hatte ihn getröstet.
Behauptete, sein Verhalten habe sie beide vor dem Tod gerettet, der sie ansonsten ebenfalls mit in sein Reich genommen hätte. Aber das half nur wenig.
Dann war das Gerede im Dorf lauter geworden, undwieder ließ er den Dingen ihren Lauf – diesmal wegen Helene.
Seine Schwester wollte in kein Heim gebracht werden. Er hatte versprochen, auf sie aufzupassen, und wieder kläglich versagt.
Denn als Helene überfallen wurde, war er nicht zu Hause gewesen.
Heiko weinte. Mit gesenktem Kopf stand er am kerzengeschmückten Grab seiner Mutter und war überwältigt von seiner Schuld.
„Mama, ich schwör’s, ich kriege das Schwein, das Helene überfallen hat! Und ich werde dafür sorgen, dass dein Mörder nun endlich bezahlt. Helene wird ihren Widerstand aufgeben! Es tut mir so leid, glaub mir. Dieses eine Mal in deinem Leben hast du meine Hilfe gebraucht – und ich habe sie dir verweigert, habe zugelassen, dass du getötet wirst!“
Er fiel auf die Knie, spürte nicht, wie die eisige Feuchtigkeit durch seine Jeans kroch.
„Ich habe dich im Stich gelassen und Hele auch. Aber was hätten wir tun sollen? Wir haben den Mörder doch gesehen – wie Leopold. Unser Vater – ein Mörder. Leopolds Mutter erzählte es überall herum. Wir beschlossen, zu schweigen und abzuwarten. Ich glaube, Hele und ich hofften, es sei alles nur ein böser Traum, aus dem wir eines Tages wieder aufwachen würden.“
Er rappelte sich wieder auf.
Sein Zorn hatte über die Verzweiflung gesiegt.
„Nun sind wir also wieder da. Ich wollte nur, dass du weißt, dass ich nicht mehr feige bin! All die Jahre habe ich mir diese Schwäche abzutrainieren versucht. Ich werde den Kampf aufnehmen!“
„Onkel Anton! Papas Freund hat angerufen! Er will, dass wir nach Köln kommen! Wo liegt denn Köln? Ist die Stadt so groß wie Meran?“, sprudelt es aus Helene hervor, kaum dass der Onkel aus dem Auto steigt.
„Köln ist viel, viel größer als Meran. Und es liegt in Deutschland.“
„Das wäre toll, oder? Dort kennt uns keiner“, freut sich auch Heiko.
Antons Magen krampft sich bei diesen Worten heftig zusammen, aber er versteht die beiden. In dieser feindlichen Atmosphäre kann man sich nicht mehr wohlfühlen.
„Wo ist euer Vater?“
Heiko deutet auf das Haus.
„Es geht ihm also immer noch nicht besser?“
Der Junge schüttelt den Kopf.
Jakob liegt im Bett und starrt an die Decke.
Er war nur kurz draußen gewesen, um die Kühe, die seit dem Brand des Stalls im Freien übernachteten, zu füttern und zu melken. Nun liegt er schon seit Stunden wieder hier – bewegungsunfähig. Fast kann man
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