Steinhauer, Franziska
zugegeben.“
Währenddessen hob die Glocke der kleinen Kirche zu lautem Wehklagen an, das weit über das Tal schallte und von der Niederlage des Guten kündete.
Pfarrer Weißgerber starrte in blankem Entsetzen auf St. Gertraud.
Die Meisten derer, die in dieser Nacht zu Verfolgung und Vertreibung aufgebrochen waren, gemordet und Feuer gelegt hatten, hatten an seinem Religionsunterricht teilgenommen und seinen Predigten gelauscht. Wie konnten seine Worte über Toleranz und Nächstenliebe nur so versandet sein? Warum hatte der Herr diese kleine Gemeinde nicht vor diesem Schrecken bewahrt?
Traurig sah er vom Friedhof aus über die Häuser, die friedlich dazuliegen schienen. Eng kuschelten sie sich an den Berg, manche standen dicht an dicht, als Zeichen des freundlichen Umgangs miteinander. Wie sehr dieser Eindruck doch täuschte, dachte der Seelsorger desillusioniert: In vielen der schmucken Häuschen wohnten Brandstifter und Mordlustige, in manchen gar Mörder.
Der Wind blies eisig.
Er schlug den Mantelkragen hoch.
Ganz in seine Betrachtungen versunken und mit den Überlegungen die eigene Zukunft betreffend beschäftigt, bemerkte er nicht, dass er nicht mehr allein war.
Eine Hand schob sich unter seinen Arm, und er fuhr erschrocken zusammen.
„Tut mir leid. Ich wollte Sie nicht erschrecken. Gibt es denn da unten etwas Interessantes zu sehen? Bei mir ist niemand zu Hause, und ich habe mal wieder den Schlüssel vergessen. Kann ich bei Ihnen warten?“
Pfarrer Gabriel Weißgerber starrte die Gestalt aus weit aufgerissenen Augen an, als sei sie ein Gespenst.
„Anna?“, fragte er dann ungläubig, „Anna – bist du es wirklich?“
Und in dem Moment erkannte der Pfarrer, dass der Herr seinen Seelsorger also doch nicht im Stich gelassen hatte. Sein Flehen um die gesunde Heimkehr des Mädchens war erhört worden!
Er blickte dankbar in den Nachthimmel, auch wenn der Herr die Menschen von St. Gertraud verlassen hatte!
Pfarrer Weißgerber konnte es ihm nicht verdenken. „Aber ja“, das Mädchen lachte hell. „Wer sollte ich sonst sein? Habe ich irgendetwas verpasst – ist wieder eine Versammlung?“, fragte sie fröhlich und hängte sich bei dem Seelsorger ein.
„Nein, keine Versammlung. Komm, wir wärmen uns bei einem heißen Tee auf.“
Als die beiden die Gaststube betraten, sprang Mendetti überrascht auf.
„Anna! Da bist du ja!“, begrüßte er das Mädchen grenzenlos erleichtert.
„Du liebe Güte, ist was passiert? Wie sehen Sie denn aus?“
„Das ist eine ziemlich lange Geschichte. Ich schlage vor, wir fangen mit deiner an. Erzähl doch mal, was du heute Abend gemacht hast.“
Anna war irritiert, sah ratlos von einem zum anderen und begann dann, nachdem Klapproth ihr aufmunternd zugenickt hatte, zu sprechen.
„Als ich an der Bushaltestelle stand, kam zufällig mein Cousin vorbei. Er lud mich ins Kino ein und versprach, mich danach nach Hause zu fahren.“
„Ging der Film so lang?“
„Na ja, wir waren danach noch essen. Aber warum wollen Sie das wissen?“
„Du hättest besser Bescheid gegeben. Deine Eltern haben sich Sorgen gemacht!“
„Aber das habe ich doch!“, entrüstete sich das Mädchen. „Ich habe mit Berta telefoniert! Meine Eltern konnte ich nicht erreichen. Berta wollte es ihnen ausrichten!“
Maja Klapproth warf einen Blick auf die Uhr.
Halb zwei.
Malte Paulsen würde wohl nicht erfreut sein, wenn sie ihn um diese Zeit weckte. Morgen früh wäre noch früh genug, entschied sie schließlich und legte das Handy auf den Nachttisch.
Müde und zerschlagen stellte sie sich unter die warme Dusche und versuchte, die letzten Reste von Dreck, Schweiß und Rauch loszuwerden. Das Entsetzen ließ sich jedoch auch mit dem duftenden Duschgel nicht beseitigen.
Wie war eine solche Eskalation nur möglich gewesen? Erst nach Tagesanbruch, wenn die Suchtrupps den Wald durchkämmt hätten, würde sich herausstellen, wie viele Tote und Verletzte es tatsächlich gegeben hatte, wer außerMario und Julian noch vermisst wurde und wie hoch der entstandene Sachschaden war. Der psychische Schaden der Betroffenen würde schwerer zu ermitteln sein.
Sie kroch unter die Bettdecke und spürte, wie ihr gesamter Körper bebte.
An Schlaf war nicht zu denken.
Mendetti hatte für den nächsten Morgen schweres Gerät angefordert, um den Rest des Dachstuhls von den weitgehend verbrannten Seitenwänden des Schuppens zu heben, und Klapproth konnte nur hoffen, dass sich ihre Befürchtung, noch weitere
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