Steinhauer, Franziska
Verschwiegenheit verstößt –, oder wenn man sich den Wünschen des Herrn widersetzt. Es sind nur schwerwiegende Vergehen, die er drastisch ahndet. Am Anfang werden kleinere Verstöße noch als Versehen gewertet.“
„Diese Flecken – wofür bekommt man die?“ Julian spürte einen wohligen Schauer.
„Für die unterschiedlichsten Dinge. Wenn ich euch aufden richtigen Pfad zu Lucifer führe, werden mir Punkte gutgeschrieben – bewährt ihr euch, so kann sich der Stand auf meinem Konto dadurch ebenfalls verbessern.“
„Wie viele …“
„Pssst!“, unterbrach Kevin den Frager, „wir sind da. Seht zu, hört zu und tut, was die anderen tun. Zündet jetzt eure Kerzen an und wartet einfach ab, was passiert.“
Und es passierte Unglaubliches.
Lucifers Kinder hatten sich zwischen den Grabreihen vor einem großen Mausoleum im Zentrum des Friedhofs versammelt. Auf den Gräbern brannten unzählige Kerzen. Ein schwerer, süßlicher Duft hing in der Luft, und die Versammelten begannen Texte in einer fremden Sprache zu murmeln, welche die Freunde noch nie zuvor gehört hatten und auch nicht verstanden. Dennoch fühlten sie deren Worte auf seltsame Weise tief in ihrem Innern nachhallen.
Gespannte Erwartung lag über der Gruppe.
Wie auf ein geheimes Kommando hin verstummten die gemurmelten Worte, die Teufelsanbeter drängten sich dicht aneinander, und ihre Blicke richteten sich auf den Eingang der Gruft.
Fackeln beleuchteten nun die Stufen vor dem Portal, und dort stand, als habe er sich direkt aus der Hölle an die Erdoberfläche geschoben, ein muskulöser, hochgewachsener Mann in schwarz schimmerndem Gewand.
Der Hohepriester der Kinder Lucifers.
„Das ist Nocturnus“, flüsterte Baumeister seinen Schützlingen zu, „unser Führer.“
Mit ausgestreckten Armen, die Handflächen nach unten weisend, rief Nocturnus den Versammelten zu: „In NomineMagni Dei Nostri Satanas. Introibo ad altare Domini Inferi.“
Der Chor der Anwesenden murmelte wie zur Bekräftigung: „Odium robur verum est.“
Fasziniert hörten die Freunde, wie der Priester seinen Anhängern von der Kraft des Herrschers der Finsternis berichtete, die auch auf sie überginge, wenn Lucifer mit ihnen zufrieden wäre. Eindringlich sprach er, und die Stimme des unheimlichen Mannes, stellte Mario plötzlich fest, klang in seinem Inneren nach. Er hatte das Gefühl, als übernähme der andere bestimmte Areale seines Denkens. Marios Armhaare stellten sich unter dem Pullover auf, Gänsehaut überzog seinen Rücken.
Er schüttelte heftig den Kopf, um die Stimme abzuschütteln.
Rasch sah er sich um und entdeckte überall nur gebannte Satanisten. Sie standen hoch aufgerichtet, völlig unbeweglich, und starrten ihren Priester an. Julians Augen hingen ebenfalls an der Gestalt des Mannes. Er folgte jeder seiner Bewegungen, den Mund dabei leicht geöffnet und wie hypnotisiert von der Zeremonie. Mario begegnete dem Blick Kevin Baumeisters. Lag in dessen Augen ein böses Funkeln, oder bildete er sich das nur ein? Schnell wandte er sich wieder dem Geschehen vor dem Mausoleum zu. Sekunden später war auch er völlig gefangen.
„Satan, Herrscher der Erde – sieh auf uns, deine Kinder. Satans Herrschaft begünstigt die, die ihm folgen, unterstützt jene, die kraftvoll sind, und vernichtet das parasitäre Gesindel. Was ihr für euch tut, wird auch ihm zuteil. Euer Weg ist auch der seine! Richtet euch nach seinem Wort, und euch wird Glück widerfahren. Er wird euch reich beschenken. Nicht erst, wenn ihr Einlass gefunden habt insein Reich – nein, er belohnt Wagemut und Risikobereitschaft schon hier und jetzt, erkennt diejenigen unter seinen Anhängern, die auf ihrem Weg voranschreiten, auch wenn neben ihnen gejammert und geheult wird, die Stärke bewahren, indem sie ihre eigenen Ressourcen nicht an die verschwenden, die zu faul oder zu träge sind, für sich selbst zu sorgen. Satan will, dass ihr erkennt, dass der Weg, der euch an euer eigenes, persönliches Ziel führt, richtig ist – ganz gleich, wie viele Schwächlinge ihr hinter euch lasst. Die gesunde, die reine Seele verliert nie aus dem Blick, was es zu erreichen gilt!
Der Chor bestätigte: „Shemhamforasch!“
Noch nie zuvor hatten Mario und Julian gehört, wie jemand auf diese Weise ihre vom christlichen Irrglauben geprägte Gesellschaftsordnung geißelte, seine Anhänger aufforderte, die sinnlose Unterstützung der Schwachen zu unterlassen, Rücksichtnahme als falsches Prinzip zu erkennen, sich
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