Steinhauer, Franziska
Anwendung von Gewalt als auch die Grenze dessen, was wir Menschen anzutun bereit sind, verändert. Nicht, dass es, seit es Menschen gibt, nicht schon immer Morde gegeben hätte, ich glaube nur, dass dieGründe, die Menschen heute zum Töten veranlassen, banaler sind als früher.“
Solveigh Kramer nickte. „Wir hören ständig Berichte über brutale Straftaten – vielleicht stumpft uns das auch ab. Filme und Computerspiele kommen zunehmend ins Gerede. Ballerspiele, Egoshooter und all so etwas.“
Der Kellner servierte ihnen die Steaks mit Salat, und für den Rest des Abends wandten sich die Freundinnen angenehmeren Themen zu.
„Was ist eigentlich aus diesem feschen Thomas geworden?“
„Tja, was soll ich sagen?“, Klapproth feixte. „Er hat sich umorientiert. Weißt du, mit Männern läuft das bei mir immer so …“
21
„Jakob! Du musst etwas unternehmen! So kann das nicht weitergehen!“ Anton hat seinen jüngeren Bruder an den Schultern gepackt und schüttelt ihn so heftig, dass er mit dem Kopf gegen die Lehne des Sessels schlägt.
„Du kannst nicht den ganzen Tag nur dasitzen und auf Marias Bett starren! Die Kinder brauchen jetzt nicht Onkel und Tante – sie brauchen ihren Vater! Du hast die Verantwortung für sie. Außerdem verkommt der Hof, wenn der Bauer nur noch im Sessel sitzt.“ Er zerrt Jakob unsanft aus dem Sessel.
„Wann hast du zum letzten Mal etwas gegessen? Und getrunken?“
Besorgt mustert Anton die verhärmten Züge seines Bruders. „Komm, wir gehen in die Küche. Waltraud bringt euch doch jeden Tag Essen vorbei – du musst aber auch davon probieren!“
Mit sanfter Gewalt zwingt er Jakob an den Küchentisch. „Hier, trink ein Glas Tee dazu!“
Doch Jakob starrt den Auflauf und das Glas an, als wüsste er nicht, was damit zu tun sei.
„Jakob, du musst mir jetzt zuhören. Die Lage im Dorf spitzt sich zu. Leopold erzählt überall herum, du hättest Maria umgebracht. Er will dich durchs Fenster dabei beobachtet haben.“ Antons Stimme wird eindringlich. „Du musst dich dagegen wehren!“
„Leopold kann gar nicht sprechen.“ Waltraud hebt eine Portion des duftenden Gerichts auf Antons Teller. „Er bringt nur ein paar unartikulierte Laute heraus. Ich weiß gar nicht, wie die Leute ihn
verstehen wollen!“
„Er hat Übersetzer. Berta zum Beispiel. Aber auch Imme, seine Mutter. Sie tratschen diese Geschichte überall herum. Jakob, du musst etwas unternehmen!“
Von draußen ist verhaltenes Kinderlachen zu hören. Waltraud erklärt: „Amalia ist bei den Kindern hinten im Garten.“
Jakob nickt müde. Er will seine Ruhe haben.
„Maria wollte nicht von den Würmern gefressen werden. Verbrennt mich, hat sie immer gesagt, ich bin doch kein Würmerfutter. Wie können sie nur glauben, Maria hätte sich vor mir gefürchtet?“ Tränen hat Jakob schon lange keine mehr. Er fühlt sich leer – ausgeweint, allein, verlassen.
Anton nimmt einen neuen Anlauf.
„Sie glauben nicht nur, dass Maria Angst vor dir hatte! Sie denken, dass du sie ermordet hast!“
Jakob starrt ins Leere. Er hat seine Maria verloren – was die anderen glauben, interessiert ihn nicht.
Ein Fehler, doch das erkennt er viel zu spät.
„Nun, Jakob – St. Gertraud hat dich nicht gerade wie den heimgekehrten, lang vermissten Sohn empfangen.“ Anton sah seinen Bruder besorgt an.
„Das hatte ich auch nicht erwartet. Guck mich doch nicht so an! Um mich muss sich niemand Gedanken machen – bei dir sind die schon eher angebracht!“
„Wohl kaum. Jede Sorge ist in meinem Fall verschwendet und wird an meinem Zustand nichts mehr ändern. Entweder es geschieht ein Wunder, oder eben nicht. Aber dein Verhalten ist unvernünftig und beschwört eine Katastrophe herauf.“
„Ach was! So schlimm ist es nun auch wieder nicht. Waltraudübertreibt maßlos. Katastrophe ist ein viel zu großes Wort für ein paar Plakate und Transparente.“
„Waltraud meint, die Kinder bräuchten Ruhe und stabile Verhältnisse“, gab Anton dem Gespräch eine neue Richtung.
„Sie sind ein bisschen schwierig, ja.“ Jakobs Miene verdüsterte sich.
„Werden die beiden regelmäßig von einem Psychologen betreut?“
„Nein, im Moment nicht. Zuerst habe ich die Veränderungen in ihrem Benehmen gar nicht wahrgenommen, obwohl ihr eigenartiges Verhalten keineswegs über Nacht kam. Und danach dachte ich lange, dass es sich von selbst wieder geben würde. Helene floh vor den Menschen, Heiko schlug manchmal wild um sich, trat und biss.
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