Steinhauer, Franziska
Ich dachte damals, die beiden sind eben traurig und dass sich Trauer bei den Menschen nun einmal auf sehr unterschiedliche Weise äußert. Ich dachte, dass sie den Verlust ihrer Mutter bestimmt irgendwann überwinden werden und mit der Zeit alles wie früher werden wird.“ Jakob begann im Zimmer seines Bruders auf und ab zu gehen. Antons Blick folgte ihm aufmerksam.
„Es hat sich aber offensichtlich nicht gegeben, Jakob! Soll das heißen, du hast die ganzen Jahre einfach zugesehen?“ Antons Stimme war schwach, aber dennoch voller Zorn.
„Nein, Anton, natürlich nicht. Beruhige dich wieder, sonst werde ich gehen. Waltraud hat mir extra eingeschärft, ich dürfe dich nicht aufregen.“
Anton nickte.
„Natürlich war ich mit den beiden beim Arzt. Er hat sie untersucht und Heiko ein aggressionsdämpfendes Medikamentverschrieben, Helene bekam etwas Angstlösendes. Aber es hat nur für kurze Zeit geholfen, und so überwies er die Kinder an einen Therapeuten. Den haben sie auch brav einmal pro Woche aufgesucht. Heiko am Montag, Helene am Donnerstag. Natürlich bin ich auch zu ihm gegangen, um mir über ihre Fortschritte berichten zu lassen. “
„Und? Was hat der Therapeut gesagt?“
„Nun, er war sehr erfreut. Ich war nämlich der einzige Gumper, der ein Wort mit ihm gesprochen hat.“
Jakob begann wieder unruhig im Zimmer umherzugehen. Er wollte hier, am Sterbebett seines Bruders, nicht für ihn erkennbar die Ruhe verlieren.
„Das verstehe ich nicht, Jakob. Ich denke, die beiden gingen hin?“
„Ja, sie gingen hin. Wurden hineingebeten, schwiegen den Therapeuten fünfundvierzig Minuten lang an, starrten dabei vor sich hin und warteten darauf, wieder von mir abgeholt zu werden.“
„Und es ist dem Mann nie gelungen, mit ihnen ins Gespräch zu kommen? Nie?“
„Nie. Meine eigene Therapie kam voran, doch Heiko und Helene wollten sich nicht helfen lassen. Schließlich gab ihnen der Arzt seine Karte und riet ihnen, sich gut zu überlegen, ob sie nicht doch noch mit ihm reden wollten, er könne ihnen helfen, wenn sie es nur zuließen, und sie könnten ihn jederzeit anrufen und einen Termin vereinbaren. Die Karte ließen sie im Rausgehen auf dem Tischchen im Wartezimmer liegen.“
„Keine Therapie demnach – und auch keine Medikamente. Richtig?“ Antons Stimme hatte deutlich an Kraft verloren. Das Gespräch strengte ihn offensichtlich an.
„Richtig. Aber sie werden älter und werden bestimmteines Tages einsehen, dass sie Hilfe brauchen und dass man leichter durchs Leben kommt, wenn man psychisch stabil ist. Spätestens wenn sie sich verlieben.“
Anton nickte, zu müde, um zu widersprechen.
„Soll ich dir noch irgendetwas holen?“, erbot sich Jakob, „Tee, Saft oder etwas anderes?“
„Nein, danke. Lass uns morgen weiterreden!“ Anton schloss die Augen, und Jakob schlich auf Zehenspitzen zur Tür hinaus.
Ihm war während des Gesprächs ein neuer beunruhigender Gedanke gekommen. Was, wenn man in St. Gertraud bemerkte, dass Heiko und Helene sich seltsam verhielten? Würden sie das als Beweis für seine Schuld ansehen? Die Kinder eines Mörders entwickelten eben Verhaltensstörungen! Wie sollte es auch anders sein?
22
„Kevin!“, begrüßte Nocturnus den jungen Mann und streckte seine Linke aus, damit der Besucher den Ring küssen und ihm auf diese Weise seine Ehrerbietung erweisen konnte.
Baumeister verbeugte sich tief.
Doch als er nach der Hand des Sektenführers griff, spürte Nocturnus, wie angespannt sein Anwerber war.
Er runzelte die Stirn.
Irgendetwas war nicht in Ordnung, er spürte das.
Der sonst so ausgeglichene Baumeister war offensichtlich intensiv darum bemüht, etwas vor ihm zu verbergen.
Nachdem das Begrüßungsritual abgeschlossen war, fragte Nocturnus: „Schwierigkeiten, Kevin? Gibt es Probleme in St. Gertraud?“
„Nein“, knirschte Baumeister, „die Dorfbewohner sind zwar ziemlich geschockt über unser Hiersein, aber sie werden sich gewiss wieder beruhigen. Und auf der anderen Talseite scheint ein Bauer seine ganz eigene Fehde mit ihnen zu haben. Im Dorf geht das Gerücht um, er habe vor etwa zehn Jahren seine Frau ermordet. Man konnte es ihm aber nicht nachweisen. Es gibt demnach zwei ungeklärte Morde in diesem kleinen Ort!“
„Aber ich spüre eine negative Aura!“, beharrte Nocturnus.
„Ja, das mag sein. Wegen dieser Entführungsgeschichtevielleicht. Die beiden Jungs haben ihre Familien aber inzwischen angerufen. Ich hoffe, nun kehrt Ruhe
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