Stelzvogel und Salzleiche
Politiker.
»Nein, das ist voll krass, Chefe. Und das hier«, er las die Mail vor: »… Kreise enger, Schatten länger… das klingt für mich wie: He, Mann, wir kriegen dich. Also ein strammer Spruch.« Er schob die Unterlippe vor. »Könnte aber auch sein, dass die Tante wirklich eine Schweinerei vorhat.«
»Und genau das macht mir Sorgen. Was ist mit den Daten, die ich kopiert habe?«
»Hier sind sie.« Mit zwei, drei Mausklicks öffnete Cetin den Anhang der Mail, die ich in letzter Minute, bevor Irene zur Tür hereinkam, noch hatte abschicken können. Der Bildschirm füllte sich mit Textsalat. Mal waren ganze Wörter zu sehen, mal nur Bruchstücke, Buchstaben oder Satzzeichen.
»Was ist das?«
»Textleichen, Reste von gelöschten Dateien. Und was gute Kriminologen machen, dass sie nämlich aus Leichenteilen einen Körper herstellen, um diesen zu identifizieren, das können wir auch. Ist allerdings Handarbeit, dauert entsprechend.«
»Und das heißt?«
»Warten, Chefe. Warten.«
Da erhielt ich eine Nachricht, dass die Kreise enger, die Schatten länger würden, und Cetin sprach vom Warten; er saß da wie ein kleiner König inmitten von Blumen, Süßigkeiten, Computerspielen und all den anderen Geschenken, die ihm seine Verwandten und Freunde ans Krankenlager gebracht hatten.
Warten. Mein Gefühl sagte mir, dass die Zeit knapp werden könnte. Die Frage war nur, knapp für wen? Für meinen Klienten Kelian, für jemand anders? Oder für mich selbst?
Hatte ich nicht schon genug am Hals? Mit Reizgas und Elektroschocker überwältigt, von einer Frau vergewaltigt, von der Polizei verfolgt, Cetin verletzt, dazu zwei unerledigte Fälle
– so langsam wurde die Sache mehr als persönlich.
»Cetin, bitte melden Sie sich, wenn Sie die Textleichen zusammengeflickt haben.«
Er hob seine Hand mit dem Gipsverband. »Isse klar, Herr Kommissar.«
»Cetin!«
»Ja?«
»Ich besorge Ihnen einen Job beim Radio, als Komiker.«
37.
Von Marxloh fuhr ich zunächst nach Hause, um meine Siesta nachzuholen. Schlafen konnte ich nicht, aber allein das Ruhen tat schon gut. Danach fuhr ich dann tatsächlich zu Radio Vital, wenngleich nicht, um Cetin einen Job zu besorgen. Es war halb sieben. In einer halben Stunde würde Kelian, wenn alles normal war, Feierabend machen.
Um Viertel vor sieben stellte ich meinen Wagen auf dem Parkplatz einer Spedition gegenüber dem Sender ab. Aus dem Autoradio tönte Kelians sonore Stimme. Er sprach schon wieder von Motivation und ich dachte an Cetin und fragte mich, warum der junge Deutschtürke mit diesem Elan bei der Sache war. Weil er bei den Recherchen verletzt worden war?
Weil er es spannend fand? Weil er ein Honorar von mir erwartete? Sie arbeiten doch auch für Geld, Chefe, hatte er mal erwähnt. Klar, aber nicht nur deswegen, hatte ich geantwortet.
Und das stimmte sogar. Spaß musste eine Arbeit ja auch machen, hin und wieder, ein bisschen zumindest; in letzter Zeit allerdings war davon, vom Spaß, nichts zu merken gewesen.
»Manchmal muss man das Scheitern auch als Chance
betrachten«, erklärte Kelian. Wahrscheinlich fühlte sich jetzt jeder zweite Zuhörer angesprochen, Scheitern war Volkssport.
»Gerade im Unglück offenbart sich…«
Psychokram! Unverbindliches Geschwätz. Seine Sprüche mussten bei Rat Suchenden die gleiche Wirkung erzielen wie die Tageshoroskope bei Sterngläubigen. Oder die
Juxmeldungen im Internet bei Neulingen wie mir. Man suchte sich genau das heraus, was zu einem passte.
Scheitern als Chance – noch war es nicht so weit. Ich drehte ja gerade erst voll auf.
Die Sendung war zu Ende, die Tonfolge des Abspanns lief, es folgte die Werbung. Feierabend für Kelian. Ich hielt den Eingang des Senders im Auge. Ein Musikstück und noch eins, dann wurde die schwere Türe aufgestoßen. Zwei Männer kamen die Steintreppe herunter. Einer davon war van Eicken, den anderen kannte ich nicht; auf der Straße trennten sich die Männer. Was ging es mich an, ich stand hier, um auf meinen Klienten zu warten; doch dann bemerkte ich den Wagen, der sich von der Hafenbrücke näherte, bei der
Straßenbahnhaltestelle langsamer als nötig fuhr und schließlich van Eicken folgte, der inzwischen in einen großen silbergrauen Volvo gestiegen war.
Mein Gefühl sagte mir, Mogge, häng dich dran. Und das tat ich dann auch.
38.
Sie stellte sich ganz geschickt an, die alte Stelztante. Denn dass es Irene Gorgas war, die hinter dem Chef von Radio Vital herfuhr, war mir schnell klar.
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