Sterbelaeuten
sah.
„Und ich bin oft in Deutschland. Jede Mal lerne ich etwas Neues.“
„Was machst du in Deutschland?“ Maté überkam eine Welle des Heimwehs. Wie konnte es sein, dass Dana häufig nach Deutschland fuhr und er, der viel besser deutsch sprach als sie, nie aus seiner Plattenbauwohnung herauskam? Er würde mit Joska sprechen. Sie mussten auch Jobs haben, die Geschäftsreisen nach Deutschland erforderten.
„Ich bin Aufpasserin.“ Sie lachte.
„Was ist das? Auf was passt du auf?“
„Kinder?“ Sie hob die Stimme am Satzende, als müsste Maté die Antwort doch kennen.
„Was für Kinder?“
„Dana, was verdrehst du Maté hier den Kopf?“ Joska streckte ein Bein zwischen Dana und Maté und zwängte sich zwischen sie auf die Bank.
„Dana ist öfter in Deutschland.“ Maté war aufgeregt. „Ich könnte doch auch für euch nach Deutschland fahren, ich würde gerne mal wieder hin.“
„Maté, Maté.“ Joska legte die Hand auf Matés Arm. „Alles zu seiner Zeit.“ Er wandte sich Dana zu und sagte etwas, das Maté nicht verstand. Sie zog einen Flunsch und stand auf. Ihre Röcke raschelten. Joska gab den Musikern ein Zeichen und einige Frauen und Männer standen auf, um zu tanzen. Maté lehnte sich an die Wand, um ihnen zuzusehen. Die Zeit zum Reden war für heute zu Ende, das wusste er aus Erfahrung.
–
Sibylle schloss die Haustür auf. Sie hatte Mirko und Meike zum Bahnhof gebracht, von wo die beiden den ICE nach Hamburg genommen hatten. Sibylle trat in den dunklen Flur. Die Wohnung war still. Verwaist, dachte sie, wie ich.
Sie war durcheinander. Ihre Mutter war vor einer Woche gestorben und sie, Sibylle, hatte gerade ein langes Wochenende verbracht, das sie genossen hatte, wie einen romantischen Kurzurlaub. Mirko, Meike und sie hatten lange Spaziergänge durch die verschneite Landschaft gemacht. Am Samstag hatten sie sogar den alten Schlitten aus dem Keller geholt und waren in den Taunus zum Rodeln gefahren. Danach tranken sie heißen Kakao in Sibylles Lieblingscafé in Königstein und lachten über Mirkos Sahnebart. Ja, ihre Mutter war gestorben, aber es war auch eine kostbare Gelegenheit, Zeit mit Meike zu verbringen, verteidigte Sibylle dies vor ihrem Gewissen. Abends hatten sie und Mirko eine Flasche Wein aufgemacht und – vorsichtig sensible Themen vermeidend – erzählt und erzählt, bis es auf einmal zwei Uhr nachts war.
Sibylle setzte sich an den Flügel, den sie nach der Entdeckung des Testaments nicht mehr angerührt hatte. Ihre Finger glitten über die Tasten und sie spielte eine Toccata. Nach ein paar Takten hörte sie auf. Irgendetwas klang nicht richtig. Der Flügel wurde zweimal im Jahr gestimmt. Früher hatte das Kantor Fiebig gemacht, der Vorgänger von Torat. Fiebig war im Sommer in den Ruhestand gegangen und zu seinen Kindern nach Bayern gezogen. Torat hatte sich bereit erklärt, das Stimmen des Flügels zu übernehmen, aber irgendwie war er bisher noch nicht dazu gekommen. Hatte offenbar vor lauter Flirten keine Zeit, dachte Sibylle gehässig.
Es hörte sich auch nicht so an, als wäre der Flügel verstimmt. Es war eher ein Störgeräusch. Sibylle konnte es nicht einordnen. Vielleicht konnte Torat herausfinden, was es war, wenn er denn jemals kam. Sie machte vorsichtig den Deckel zu und strich über den glatten Lack. Gegen ihren Willen musste sie sich eingestehen, dass sie diesen Flügel haben wollte. Stephanie war unbestritten musikalisch und spielte virtuos Klavier. Aber ihr fehlte etwas. Das ließ sich nicht gut in Worte fassen. Halt die Gabe, Steine zum Weinen zu bringen, mehr war es eigentlich nicht. Oder anders gesagt, das ganz große Gefühl. Und das hatte Sibylle.
Deshalb war es auch richtig, dass der Flügel ihr gehören sollte. Was hätten sie und Stephanie getan, wenn Mutter nichts verfügt hätte? Sie würden ja nicht bis an ihr Lebensende hier zusammen wohnen. Was hätte Sibylle getan, wenn Stephanie den Flügel hätte verkaufen und den Erlös teilen wollen? Sibylle war Bibliothekarin. Sie hatte nicht genug Geld, um Stephanie auszuzahlen.
Sibylle wusste, dass der Flügel auch für ihre Mutter von großem emotionalen Wert gewesen war. Er hatte „der Gräfin“ gehört. Ihre Mutter hatte auf ihm das Klavierspielen gelernt. In den Frankfurter und Sulzbacher Jahren war die Mutter mit der Gräfin in Kontakt geblieben. Als diese schließlich verwitwet und kinderlos starb, hatte Katharina Heinemann sich mit den Angehörigen in Verbindung gesetzt und gefragt, ob
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