Sterbelaeuten
sie den Flügel kaufen könne. Sibylle konnte sich – obwohl sie damals noch ein Kleinkind war – daran erinnern, dass dies Anlass für heftige Diskussionen mit ihrem Vater gegeben hatte. Aber ihre Mutter wollte den Flügel unbedingt haben und sie setzte sich schließlich durch, obwohl der Kauf eigentlich über die Verhältnisse der jungen Familie ging.
Sibylle wurde plötzlich von einer großen Erschöpfung übermannt. Die Ereignisse und vor allem die Emotionen der vergangenen Tage hatten Kräfte gekostet. Sie senkte den Kopf und legte die Wange auf den kühlen Deckel. Sie sehnte sich nach ihrer Mutter. Ihre Arme umfassten den Flügel wie in einer Umarmung, der rechte den Deckel von oben, der linke umfasste die Tastatur von unten. Sie hielt sich an ihm fest, als wäre der Flügel die Verkörperung ihrer Mutter und sie könne ihr auf diese Art nahe sein. Die Finger ihrer linken Hand fühlten auf dem Boden des Flügels etwas ein oder zwei Millimeter nachgeben. Etwas am Boden des Korpus war locker. Vielleicht kam daher das Störgeräusch. Sibylle beugte sich nach unten, um nachzusehen. Sie musste sich auf den Boden setzen.
Der Boden des Korpus war aus Fichtenholz. An ihm entlang verliefen Rippen aus dem gleichen Holz, den Boden in schmale Streifen teilend. Ihre Finger mussten den Streifen, der vorne am linken Bein des Flügels begann, betastet haben. Sibylle tippte gegen den Boden und fühlte wieder das leichte Nachgeben. Sie sah genau hin. Dort war eine ganz dünne Platte aus dem gleichen Holz wie der ganze Boden mit vier dünnen Holzstiften in den Ecken an dem Boden befestigt. Einer dieser Stifte hatte sich gelockert, so dass diese Ecke ein oder zwei Millimeter nach unten ragte.
Sibylle besah sich die anderen Streifen. Dort waren keine Platten. Wozu diente dann diese eine? Sibylle löste die Platte vorsichtig etwas mehr. Jetzt lockerte sich auch ein zweiter Stift. In der Ritze zwischen Boden und Platte war etwas. Sibylle schob den Zeigefinger in die Ritze und zog den Gegenstand heraus.
Was in aller Welt? Es war eine kleine Klarsichthülle, in der ein vergilbtes pergamentartiges Papier steckte. Sibylle zog das Papier aus der Folie und entfaltete es vorsichtig. Es war eine Handschrift. Deutsche Schrift. Sie trug die Überschrift „Vom Himmel hoch, da komm ich her“. Oben rechts stand: „Zur Weise ‚Ich komm aus fremden Landen her‘ zu singen“. Die Melodie war in Noten handschriftlich aufgemalt. Es folgten alle fünfzehn Strophen des Liedes. Unten stand eine weitere Bemerkung: „Für die Bescherung am Heiligen Abend 1535.“ In die Ecken waren Schneeflocken gezeichnet. Sibylle wurde schwindlig.
Wenn das war, wofür sie es hielt, dann war es – eine Sensation. Das Weihnachtslied „Vom Himmel hoch da komm ich her“ hatte Martin Luther 1535 gedichtet, angeblich zur Bescherung seiner Kinder. Sibylle war nicht bekannt, dass eine Originalhandschrift hiervon existierte. Was machte diese Handschrift in Mutters Flügel? Sibylle hörte einen Wagen vorfahren. Anscheinend kam Stephanie zurück. Sibylle faltete das Papier wieder zusammen und schob es in die Folie und dann in sein Versteck zurück. Sie drückte die Platte mit den Stiften fest in den Boden. Sie wollte in Ruhe darüber nachdenken.
–
Es war dumm, unbelebte Dinge zu hassen, aber Henry hasste diesen Kopierer. Er hatte in der Kurzbeschreibung gelesen, dass der Kopierer Dokumente scannen und an eine E-Mail-Adresse senden konnte. Jetzt hatte er seine Adresse ungefähr zum trillionsten Mal eingegeben, aber jedes Mal verschwand sie in den unendlichen Weiten der Schaltkreise oder Platinen oder was zum Kuckuck das „intelligente“ Innenleben eines Kopierers ausmachte. Ilona war krank und daher auch keine Hilfe. Henry spürte einen überwältigenden Drang, feste gegen den Kopierer zu treten. Es konnte ihn ja niemand sehen. Da klingelte es.
Henry stellte sich taub. Das Gemeindebüro war wegen Krankheit geschlossen, er hatte vor ein paar Minuten das Schild ans Tor gehängt. Und er hatte schließlich zu tun. Er holte Luft und tippte erneut seine Adresse auf der Miniaturtastatur des Kopierers ein.
Es klingelte wieder, diesmal dreimal. Henry pfiff „Nun lasst uns gehn und treten.“ Es klopfte gegen das Fenster. Der Pfiff erstarb Henry auf den Lippen und er blickte zum Fenster. Er sah, wie eine Hand emporschnellte, klopfte und wieder nach unten sauste. Dann läutete die Klingel Sturm. Henry gab auf.
„Ich komm ja schon!“
„Mach auf, Henry, ich weiß,
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