Sterbelaeuten
pustete mit einem „Pff“ Luft aus und drehte sich in seinem Stuhl vom PC weg.
„Aber die Liste ist ganz gut, was?“
„Hm.“ Es stimmte. Die meisten, die drangingen, waren alte Leute. Sie mussten die Nummern nicht anhand altmodisch klingender Namen aus dem Telefonbuch heraussuchen. Jemand hatte schon vorsortiert und dieser jemand hatte gewusst, wen er auf die Liste setzten sollte.
Maté war nicht wirklich enttäuscht, dass Herr Schmidt ihm nicht in die Falle gegangen war, und dass Enver den Abholer nicht losschicken musste. Joska hatte zwar gesagt, dass er seine Papiere umso früher wiederbekommen würde, umso mehr Geld er verdiente, aber wenn Maté ehrlich mit sich war, glaubte er Joska nicht. Je besser Maté war, desto nötiger brauchten sie ihn. Je mehr Oldies er um ihr Erspartes brachte, desto länger ließen sie ihn hier am Telefon sitzen, mit Enver nebendran, der Google Maps aufhatte und das Handy in der Hand, und nur darauf wartete, die Abholer loszuschicken. Manchmal taten ihm die Alten auch leid. Vor allem die Frauen. Aber Enver hatte schon recht.
„Weißt du, Maté“, hatte er ihm erklärt: „Die Rentner in Deutschland sind gut und gerne die reichsten Menschen in ganz Europa. Die haben so viel verdient in ihrer Generation, ja? In den fetten Jahren. Und jetzt kriegen sie so hohe Renten, die fressen ihren eigenen Kindern und Enkelkindern die Haare vom Kopf, so ticken die. Und die Kinder und die Enkelkinder, die kümmern sich einen Dreck um ihre Alten, lassen die einsam in ihren Wohnungen verrecken, statt dass die Alten bei ihren Kindern wohnen und denen was von ihrem Geld geben und die Kinder kümmern sich dafür um die Alten. Das System ist krank. Und wir, guck uns an. Guck nach draußen, dann siehst du, wie die Deutschen sich um uns kümmern. Guck verdammt noch mal dich selbst an, wie die sich um dich gekümmert haben. Meinst du die Hilde und der Onkel Heinrich würden irgendwas für einen Roma-Asylanten tun, der vor der Abschiebung steht? Meinst du, die würden dir Asyl geben, wenn du wieder hinfahren würdest? Einen Dreck würden die.“
Enver konnte reden wie kein anderer. Er hatte Maté auch eingewiesen und ab und zu machte er selbst ein paar Anrufe, wenn er meinte, Maté müsste noch mal sehen, wie man es richtig machte. Aber Enver konnte Serbisch oder was sie untereinander sprachen, und er war Koordinator, das war in der Hierarchie höher als Telefonist. Enver war alles in allem in Ordnung, auch wenn er sein Aufpasser war. Das hatte er sich sicher nicht selbst so ausgesucht. Er behandelte Maté gut und wenn Enver keine moralischen Bedenken hatte, so hatte Maté auch keine. Was blieb ihm denn auch übrig? Entweder Telefondienst oder der Slum.
–
In Henrys Ohren gab es keinen lieblicheren Klang als den der Schulglocke der Sulzbacher Käthe-Kollwitz-Gesamtschule. Jedenfalls wenn sie das Ende seiner letzten Religionsstunde einläutete. Er musste sich häufig bremsen, nicht schneller als seine Schüler zur Tür hinauszulaufen. 11.15 Uhr. Zeit für den Geburtstagsbesuch bei Frau Albrecht, die heute 85 Jahre alt wurde. Henry packte seine Unterrichtsmaterialien in die Tasche und machte sich zu Fuß auf den Weg in die Jahnstraße.
Es hatte aufgehört zu schneien und die Sonne schien an einem klaren, blauen Himmel. Sulzbach sah aus wie ein Winterferienort. Hier und da räumten Anwohner ihre Gehwege. Viele kannten Henry und sie wechselten ein paar Worte. So uneins wie die Sulzbacher in vieler Hinsicht waren, eines einte sie: Der Schnee war eine Plage, er taute besser heute als morgen. Es war nicht das erste Mal, dass Henry seine Gemeinde nicht verstand.
Als er bei dem Haus in der Jahnstraße angekommen war, trat vor ihm Antoni aus dem Hauseingang.
„Guten Tag, Antoni“, grüßte Henry. „Wie geht es Ihnen?“ Er hatte sich schon Gedanken gemacht, was nun aus Antoni werden würde, nachdem seine Pflegepatientin gestorben war. Ob er wieder nach Polen zurückgehen würde? Antoni starrte Henry aus erschrockenen Augen an. „Was ist denn, geht es Ihnen nicht gut?“, fragte Henry besorgt.
„Nein, nein, es geht mir gut“, versicherte Antoni. Er blickte hinter sich, dann wieder zu Henry. Es sah so aus, als hoffte er, Henry würde einfach wieder verschwinden, wenn er nicht hinsähe. Da das nicht der Fall war, sagte Antoni: „Ich muss gehen. Auf Wiedersehen!“
Er schien es sehr eilig zu haben. Henry sah ihm nach. Dann wandte er sich zum Hauseingang. In dem Mehrfamilienhaus wohnten sechs
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