Sterbelaeuten
Parteien. Henry kannte es. Außer Frau Albrecht wohnte hier auch Frau Hensch, eine bald neunzigjährige Dame, die immer noch allein zurechtkam. „Die müsste ich auch mal wieder besuchen“, dachte Henry. Er hatte sie seit ein paar Wochen nicht mehr in der Kirche gesehen.
Bei Schnee und Eis gingen die alten Leute nicht gerne auf die Straße, aus Angst zu fallen und sich schwer zu verletzen. Vielleicht war das der Grund, warum Frau Hensch ferngeblieben war. Henry drückte die Klingel von Frau Albrecht. Der Summer ertönte und Henry stieg die Treppe hoch in den ersten Stock. Im Treppenhaus konnte er schon die Stimme des Bürgermeisters und weiterer Gäste hören. Hoffentlich wollten sie nicht, dass er Schnaps tränke.
Zehn Minuten später saß Henry auf dem Albrecht’schen Sofa. Er hatte das „Gläschen Sekt, nun nehmen Sie schon, Herr Pfarrer!“ auf einem Regalboden des Bücherregals abgestellt und sich stattdessen eine Tasse Kaffee organisiert. Nun versuchte er, einer weitgehend ereignislosen, dafür umso ausschweifenderen Geschichte des Neffen der Jubilarin über den Erwerb und die Lagerung seiner Sommer- und Winterreifen zu folgen.
Als es klingelte und Frau Hensch, am Arm geführt und gestützt von ihrer Tochter, den Raum betrat, begrüßte Henry sie enthusiastisch. Die Sache mit den Winterreifen war jetzt einfach ausgereizt. Frau Hensch war, wie es sich herausstellte, vor einigen Wochen tatsächlich gefallen und hatte sich den Oberschenkel gebrochen. Die Genesung verlief etwas schleppend und die Angst, erneut zu fallen, war noch groß. Man sei daher nun doch auf der Suche nach einer Hilfe, ergänzte die Tochter.
„Ja, deswegen bin ich auch so spät, Hilde“, erklärte Frau Hensch der Gastgeberin. „Es hat sich eben noch ein junger Mann bei uns vorgestellt, ein Pole.“
Henry merkte auf.
„Wie bist du denn an den gekommen?“, wollte Hilde Albrecht nun wissen.
„Ich habe beim Rewe eine Anzeige gesehen“, erklärte die Tochter. „Ausgebildeter Krankenpfleger aus Polen sucht Arbeit bei älterer pflegebedürftiger Person“, zitierte sie verlegen lächelnd.
„Ja, denk mal, Hilde“, sagte Frau Hensch „das bin ich nun, eine ‚pflegebedürftige Person‘.“
„Na, na, du bist doch noch sehr gut beieinander für dein Alter!“, tröstete Frau Albrecht ihre Nachbarin.
„Ja, und nehmt ihr den jetzt, den Polen?“, mischte sich Bürgermeister Holbein nun in das Gespräch. Frau Hensch sah etwas unsicher zu ihrer Tochter.
„Na, ordentliche Manieren hatte er schon und sein Deutsch war auch ganz hervorragend. Aber man weiß ja nie, was einer für ein Mensch ist.“
„Leider wollte er uns keine Referenzen seines letzten Arbeitgebers geben. Er hat irgendwie um den heißen Brei geredet und uns vertröstet. Aber warum er sie jetzt nicht hatte, habe ich nicht ganz verstanden“, bestätigte Frau Henschs Tochter.
Henry war versucht, sich einzumischen, zu erzählen, dass er den Polen wahrscheinlich kannte, denn wer sonst als Antoni sollte es denn gewesen sein? Aber es kam ihm nicht richtig vor, etwas aus dem Privatleben der gerade verstorbenen Frau Heinemann zu erzählen oder gar vorzuschlagen, deren trauernde Töchter auf Antoni anzusprechen. Außerdem: Wie gut kannte er Antoni überhaupt? Gut genug, um eine Empfehlung auszusprechen?
–
Röhrigs Hand schwebte unentschlossen über dem Telefon. Er hatte den Untermieter ausfindig gemacht. Er lebte in Sulzbach am Taunus. Sollte er ihn anrufen? Er hatte ihm im Grunde ja alles erzählt, was es zu erzählen gab, so würde er sagen, warum er denn noch mal anriefe. Dass er den Schmuck genommen habe, würde er rundweg abstreiten. Sein Alibi war unangreifbar. Dreißig Menschen konnten bezeugen, dass er von 18.00 bis 21.30 Uhr eine Chorprobe geleitet hatte. Sie hatten für ein Konzert geprobt, daher war die Probe länger als sonst ausgefallen. Und er war mindestens schon seit 17.00 Uhr im Gemeindesaal gewesen, hatte der Küster ausgesagt, um sich vorzubereiten. Bis er von dort in der Wohnung angekommen war, musste es zehn gewesen sein. Die Gerichtsmediziner hatten den Todeszeitpunkt auf die Zeit zwischen 18.00 und 21.00 Uhr eingegrenzt.
Es würde nichts dabei herauskommen. Röhrig ließ seinen Blick über die Stapel auf seinem Schreibtisch wandern. Über die verstaubte Schreibtischlampe, den uringelben PVC-Boden. Organist war der Untermieter. Laut Internetauftritt der evangelischen Kirchengemeinde in Sulzbach feierte man dort jeden Sonntag um zehn Uhr
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