Sterbelaeuten
Plastiktüte mit dem Stollen auf dem Beifahrersitz. Dann nahm sie den Kratzer aus der Seitenwand der Fahrertür und macht sich an die Arbeit. Ihre Hände waren eiskalt, als sie endlich losfahren konnte. Sie sah auf die Uhr im Auto. Gleich sechs. In einer halben Stunde würde sie in der heißen Wanne liegen und sich von der Reise ausruhen, dachte sie. Aus dem ICE hatte sie zuhause angerufen, um Stephanie mitzuteilen, wann sie zurück sein würde. Es war aber nur der Anrufbeantworter angegangen. Da war Sibylle eingefallen, dass Stephanie gerade mitten in Marlenes Klavierstunde sein musste und sicher das Telefon leise gestellt hatte. Sibylle hinterließ die Nachricht, dass sie gegen sechs zuhause sein würde.
Ob Stephanie noch da sein würde?, überlegte Sibylle. Wann fing die Kirchenvorstands-Weihnachtsfeier eigentlich an? Irgendwann würde Sibylle wieder mit Stephanie reden müssen. Sie konnte ihr nicht ewig aus dem Weg gehen. Und Stephanie konnte bei ehrlicher Betrachtung ja auch nichts dafür, dass Mutter so verfügt hatte, wie sie eben verfügt hatte. Außerdem war da ja noch die Sache mit der Handschrift. Das konnte Sibylle sicher nicht dauerhaft vor Stephanie geheim halten. Was sollte sie mit der Handschrift tun? War ihre Mutter überhaupt rechtmäßig in ihren Besitz gelangt? Das waren Fragen, bei denen sie Stephanie mit ihrem juristischen Sachverstand brauchte.
Sibylle bog in die Hauptstraße ein und sah zur Linken die Kirche liegen. Es brannte Licht. Vielleicht hatte Torat die Gelegenheit genutzt und übte vor der Weihnachtsfeier noch etwas. An der Ampel musste Sibylle halten. Ihr Blick fiel auf die Tüte mit dem Stollen. Als es grün wurde, setzte sie den Blinker links statt rechts und fuhr auf einen Parkplatz in der Nähe der Kirche. Wenn Torat in der Kirche wäre, könnte sie den Stollen gleich loswerden. Wer weiß, wann sie ihn vor Weihnachten sehen würde.
Sibylle öffnete die schwere Tür und trat ein. Torat stand oben an der Orgel. Sibylle winkte ihm. „Hallo, Johannes, ich habe was für dich. Ich komme hoch.“ Sie stieg die Treppen hoch auf die Empore. Torat kam ihr auf der Empore entgegen.
„Störe ich dich?“, fragte Sibylle, als sie vor ihm stand. „Du guckst so entgeistert.“
Er lächelte. „Entgeistert? Entzückt, meinst du wohl“, erwiderte er. „Ich habe dich nicht erwartet. Willst du auch üben? Du spielst doch morgen.“
„Nein, ich bin schon vorbereitet. Aber da fällt mir ein, dass ich letztes Mal meine Noten hier liegen lassen habe.“ Sie drängte sich an Torat vorbei zur Orgel. Rechts neben der Orgel war ein Regal, auf dem alle möglichen Noten und alte Gottesdienstprogramme lagen. Davor lag eine kleine Leiter, die Thomas zum Schmücken des Weihnachtsbaums benutzte. Sibylle kletterte vorsichtig über sie, kramte kurz auf dem Regal herum. „Hier sind sie ja.“ Sie rollte das Notenheft zusammen und steckte es in ihre Manteltasche. „So und jetzt habe ich etwas für dich“, wandte sie sich an Torat: „Rate mal, von wem.“ Sie zog den Stollen aus der Tüte.
Torat runzelte die Stirn. „Was ist das?“
„Ein Spezialstollen“, erklärte Sibylle. „Ich war in Amorbach. Zur Fortbildung.“
Torat wurde blass.
„Ich kam mit einer reizenden alten Dame ins Gespräch, die große Stücke auf dich hält. Frau Meisheimer. Sie lässt dich ganz lieb grüßen. Und ich soll dir das hier geben.“ Sie hielt ihm den Stollen hin.
Torat wich zurück. „Nein, Sibylle, ich hasse diese Dinger. Behalt du ihn.“
„Oh nein.“ Sibylle lachte. „Deinen Spezialstollen wirst du schon nehmen müssen, nachdem ich ihn hierher geschleppt habe.“
Sie entdeckte Torats Notentasche auf dem Boden. Sie griff nach ihr, um den Stollen hineinzustecken. Torat machte einen Satz auf sie zu, um ihr die Tasche zu entreißen. Sibylle ließ erschrocken los und der Inhalt der Tasche ergoss sich über den Boden. Notenhefte, eine Folie mit einem Papier darin und eine dünne Platte aus Fichtenholz mit vier kleinen Löchern an den Ecken. Sibylles Kopf fühlte sich leicht und leer an. Langsam griff sie nach dem Papier, das neben der Holzplatte lag.
Torat packte Sibylles Hand und entwand ihr vorsichtig die Folie mit dem Papier, aber sie hatte genug gesehen. „Wie kommst du an die Handschrift?“, schrie sie.
Torat antwortete nicht.
„Du hast sie gestohlen! Hast du auch deine Vermieterin in Amorbach bestohlen?“ Sie schritt auf ihn zu und versuchte, an ihm vorbeizugehen. Torat hielt sie fest. „Ich geh
Weitere Kostenlose Bücher